Madame Butterflys Schatten
Zerbrechliches, nichts Wertvolles – außer einem alten Kreisel, den er zusammen mit einem Paar Socken in die Tasche stopfte.
Er wollte die Tasche gerade schließen, als Nancy ihm einen Briefumschlag reichte, das elfenbeinfarbene Papier war dick und rau wie das eines kostbaren alten Buches, und es klebten merkwürdige bunte Briefmarken darauf.
In dem Umschlag befand sich das Foto einer Frau mit blasser Haut, kurz geschnittenen schwarzen Haaren und ernstem Gesicht. Sie trug ein fließendes dunkles Gewand, ihre marmorweißen Hände ruhten in ihrem Schoß. Das Foto war so verblichen, dass ihre Gesichtszüge kaum noch zu sehen waren, aber Joey erkannte die mandelförmigen Augen über dem ernsten Mund.
»Das ist Cho-Cho«, sagte Nancy. »Sie ist deine Mutter.«
Als damals der erste Brief aus Nagasaki eingetroffen war, adressiert an Mary, hatten heimliche Familienkonferenzen stattgefunden, sobald Joey aus dem Haus war. Mary fühlte sich betrogen.
»Seiner Familie zu verschweigen, dass er geheiratet hat! Henry war uns gegenüber nicht aufrichtig, das haben wir nicht verdient! Und jetzt das.«
Nancy fand, sie dürften den Brief nicht einfach ignorieren, auch wenn klar war, dass Joey die Vergangenheit nicht wiederaufleben lassen wollte: Soweit es ihn betraf, war Cho-Cho tatsächlich tot. Louis sah sich außerstande, etwas dazu zu sagen – das war Frauensache.
Einige Zeit verstrich. Schließlich antwortete Nancy – kurz, unbestimmt. Aber wie sollte die böse Stiefmutter auch in Worte fassen, wie es dem entführten Jungen ging? Zu schreiben, er sei glücklich und habe sich eingelebt, könnte gefühllos erscheinen, als wollte sie Cho-Cho mit der Nase darauf stoßen, dass sie keine Rolle in seinem Leben spielte. Zu guter Letzt teilte sie ihr einfach nur mit, der Junge sei gesund und komme in der Schule gut voran. Sie legte ein am Strand aufgenommenes Foto von ihm bei, die Sonne glitzerte auf seiner nassen Haut, er sah aus wie eine magerere, jüngere Ausgabe von Ben. Sie fügte hinzu, er wisse jetzt, dass seine Mutter noch am Leben sei, es sei ein Schock für den Jungen gewesen, und er werde einige Zeit brauchen, um damit fertig zu werden, aber – ein vorsichtiger Vorschlag – vielleicht wolle Cho-Cho ein Foto von sich schicken, das Nancy ihm geben könnte?
Sie erhielt keine Antwort und bereute es, überhaupt geschrieben zu haben. Doch sehr viel später war dann ein zweiter Brief mit einem Foto und einer kurzen Nachricht eingetroffen: »Ich will mich nicht in Ihr Leben einmischen. Die Vergangenheit war schlimm, man sollte nicht zu ihr zurückkehren. Wenn etwas Gutes dabei herausgekommen ist, dann, dass mein Joy – Ihr Joey – glücklich ist.«
Dieses Foto betrachtete Joey jetzt. Er war verwirrt, fühlte sich betrogen. Wo war die Gestalt im Kimono, an die er sich erinnerte, der Blick über die Schulter, die hochgesteckten Haare, die anmutig geschwungene Silhouette von Nacken und Wangen? Die Frau, die er festzuhalten versucht hatte, indem er unzählige Papierblätter mit groben Strichen, peniblen Zeichnungen gefüllt hatte? Manchmal hatte er das Papier an sein Gesicht gepresst und tief eingeatmet, hatte versucht, durch ihr Bild hindurch ihren zarten Duft einzufangen, sie in seiner Erinnerung lebendig zu erhalten, die Frau, die mit ihm am Meeresufer spazieren gegangen, die mit ihm in den Frühlingsregen hinausgelaufen war, das Gesicht dem Himmel entgegengereckt, lachend … Diese Frau war eine Fremde.
»Sie sieht anders aus«, sagte er.
»Anders als was?«
»Als in meiner Erinnerung.«
Er schob das Foto in den Umschlag zurück und steckte ihn in seine Jackentasche.
Dann warf er einen letzten prüfenden Blick auf den Inhalt seiner Reisetasche und strich mit den Fingern über den alten Kreisel. Er nahm ihn und balancierte die Halbkugel auf der ausgestreckten Hand.
»Sie hat ihn mir gegeben.«
Nancy, die nicht wusste, dass Ben es gewesen war, der ihm das Spielzeug geschenkt hatte, dass Suzuki es gewesen war, die den Kreisel gekauft hatte, widersprach ihm nicht. Nur Cho-Cho hätte sagen können, wie es tatsächlich gewesen war.
Er schloss die Tasche. »Dann verabschiede ich mich mal von Gran.«
Mary wirkte geradezu körperlos in dem großen Bett, ihre Decke hob sich kaum.
Sie blickte zu Joey auf. »Du bist so groß geworden …«
Ärgerlich zupfte sie an der Patchworkdecke, wütend auf sich selbst, weil sie nicht in der Lage war, »runterzugehen« und den Verantwortlichen den Marsch zu blasen. Diese ganze
Weitere Kostenlose Bücher