Madame Butterflys Schatten
lange genug gekocht«, flüsterte sie. »Verbrannt«, sagte er. Sie knabberten an einem Stück Brot.
Die jungen Leute in der Schlange waren gleichermaßen unglücklich. »Gibt’s keine Hamburger?«
»Oder Hotdogs?«
Die Wachleute verfolgten das Ganze mit Staunen: Was war nur mit diesen Leuten los? Einige der besten japanischen Köche aus Portland hatten sich freiwillig zum Küchendienst gemeldet. Was wollten sie denn noch mehr?
Die Armee lieferte Konservenfutter: palettenweise Büchsen, Pökelfleisch, Säcke mit Bohnen, Reis, Mehl, Zucker. Die Internierten standen Schlange. Die Abfalltonnen quollen über.
Schlangestehen wurde zu einem festen Bestandteil des täglichen Lebens. Joey stand im Speisesaal an, bei der Poststelle, im Waschhaus und auf dem Klo.
Wenn er abends, nachdem das Licht ausgeschaltet war, aus der Baracke trat, um zu den Latrinen zu gehen, wurde er von einem grellen Lichtkegel erfasst: dem Suchscheinwerfer von einem der Wachttürme. Er folgte ihm zur Latrine und wieder zurück, wie einem Star im Rampenlicht. Die einzige Trennung, die hier bei fehlenden Türen und Trennwänden bestand, war die zwischen Männern und Frauen.
Liebe Nancy , setzte er an – ein Brief, der wie viele andere ungeschrieben blieb und nur in seinem Kopf existierte –, ich komme mir vor wie in der Vorhölle, inmitten von Menschen, die ich nicht verstehe und mit denen ich normalerweise auch keine Zeit verbringen würde. Ihre Blicke sind mir zuwider – ich meine, wenn sie die Wachen ansehen: ihr Lächeln, die ständigen Verbeugungen, ihre Beflissenheit, es allen recht zu machen, nirgends anzuecken. Warum sollte hier jemandem etwas daran liegen? An diesem Ort herrscht die Niedertracht, und wir sollten unsere Blechteller auf den Tisch knallen, mit unserem Besteck klappern, mit Steinen werfen. Es überrascht mich, dass wir zum Essen Messer benutzen dürfen, da wir doch gefährliche, feindliche Ausländer sind. Manchmal denke ich, ich sollte einen Protestmarsch organisieren, aber wer würde daran teilnehmen? Für die Wachen bin ich ein Feind, der sich geschickt als Amerikaner getarnt hat. Für meine Mitgefangenen dagegen bin ich ein Rätsel, wahrscheinlich ein Spion …
Im Geist Briefe zu schreiben, half bis zu einem gewissen Grad. Bei richtigen Briefen war die Sache schon schwieriger. Vor vielen Jahren hatte Joey immer wieder die Briefe seines Vaters aus Washington gelesen, die kurzen Nachrichten, die er im Lager der Veteranen am Ufer des Anacostia von Zeit zu Zeit auf einen Fetzen Papier gekritzelt hatte. Die bewusste Fröhlichkeit und das Anliegen, von dem er schrieb, hatten falsch in seinen Ohren geklungen. Aber jetzt verstand er diese Briefe und betrachtete sie mit anderen Augen; jetzt, da er derjenige war, der nach Hause schrieb, konnte er sie entschlüsseln.
Er streifte alltägliche Themen: das Wetter, veränderlich , die Art, wie sich die Leute mit ihrer Situation zurechtfanden, erstaunlich gut , das Essen, als Hausmannskost kann man es nicht gerade bezeichnen . Nichts davon hatte viel mit der Wirklichkeit zu tun. Das Wetter setzte ihnen zu, das Essen war ungenießbar, die alten Leute waren verwirrt und hilflos, die jungen wütend. Er schrieb nichts von den Sirenen, die sie morgens aus dem Schlaf rissen, nichts von den stillen, verzweifelten Tränen, von dem Schnarchen und den Zankereien in den angrenzenden Räumen. Nichts von Krankheit und Tod und auch nichts von dem niemals schlafenden Auge des Suchscheinwerfers. Er begriff, dass man sich an bestimmte Regeln hielt, wenn man nach Hause schrieb: Man jammerte nicht und ließ sich etwas einfallen, womit man den Empfänger aufheitern konnte. Wenn er Briefe von Nancy erhielt, mit eingestreuten Witzen, Zeichnungen und ein oder zwei Versen aus einem ihrer Lieblingsgedichte, stellte er fest, dass sie diese Regeln ebenfalls befolgte. »Vor Kurzem hat das Rosenfest stattgefunden, wie immer …« Sie beschrieb die patriotischen Blumengestecke, die durch die Straßen der Stadt getragen worden waren. »Allerdings gab es dieses Jahr keinen blumengeschmückten Autokorso.« Die Benzinknappheit erwähnte sie nicht, deshalb erreichte ihn der Brief unzensiert.
Andere waren weniger geschickt, was den Umgang mit solchen Regeln anging, manchmal wurden Briefe mit geschwärzten oder ausgeschnittenen Stellen verteilt. Päckchen wurden durchwühlt.
Eine Frau, die vor Joey in der Schlange stand und ihre Post abholte, erkundigte sich höflich: »Können Sie mir bitte sagen, warum Sie dieses
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