Madame Butterflys Schatten
Kleidungsstück zerschnitten haben?«
»Überprüfung auf unerlaubte geschmuggelte Gegenstände.«
»Was soll man denn in einem Rocksaum schmuggeln?«
»Was weiß ich? Das ist ja das Problem, Lady.«
Eines Tages fragt Mrs. Yamada, die junge Ehefrau von nebenan, Joey schüchtern: »Aus welchem Grund sind Sie hier?«
»Meine Mutter stammt aus Nagasaki.« Stammt, nicht stammte: Sie ist immer noch dort. Oder nicht?
Mrs. Yamada mustert ihn eingehend und sucht nach einem sichtbaren Beweis für seine Behauptung.
»Ihr Name ist Cho-Cho.«
»Ah. Ein schöner Name. Wie schreibt sie ihn?«
Wie schreibt sie ihn? Eine unverständliche Frage.
»Tut mir leid …«
Sie lächelt. »Man kann Namen auf verschiedene Weise schreiben. Die Zeichen –« Sie bemerkt seine Verwirrung und wechselt taktvoll das Thema.
»Ein schöner Name, er steht für Verwandlung. Raupe, Kokon, Schmetterling. Es gibt viele Geschichten über Schmetterlinge. Die meisten davon sind traurig.«
Er erinnert sich an seinen Kindernamen, den seine Mutter manchmal benutzte, wenn sie ihn rief, und spricht ihn laut aus – »Kanashimi« –, und Mrs. Yamada nickt lächelnd und wiederholt ihn. » Kanashimi. Das bedeutet ›Kummer‹. Oder auch ›Sorge‹.«
Da trägt er ja den richtigen Namen.
Später vertraut sie ihm an, sie und Mr. Yamada hätten erst zwei Tage, bevor sie ihr Haus verlassen mussten und in das Internierungslager gebracht wurden geheiratet.
»Das hier sind unsere Flitterwochen.«
Joeys Weigerung, sich den anderen anzuschließen, sich in die Gemeinschaft einzufügen, brachte Ichir ō langsam auf.
»Mann, nimm’s ein bisschen leichter, sonst wirst du hier drinnen noch verrückt. Du musst mal lachen, damit du nicht durchdrehst.«
Er half mit, eine Lautsprecheranlage im Speisesaal aufzubauen. Jemand zauberte von irgendwoher eine Musikbox herbei. Die jungen Leute kamen in Scharen, um bei vertrauten Klängen ein bisschen Zerstreuung zu finden: Glenn Miller, Benny Goodman, Harry James mit seinem neuen Sänger Frankie Sinatra.
Joey blieb jedoch stur und hielt sich vom Lagerleben der anderen fern. Er hatte sich in ein inneres Exil begeben und benutzte seine Beobachtungsgabe als Werkzeug: Für ihn war das hier keine Gefangenschaft, sondern intensive Feldforschung. Malinowski forderte die Untersuchung primitiver Institutionen als lebendige, funktionale Einheiten; er hatte seinen Blick auf Meeresküsten, Jamsfelder und komplizierte Stammesgesetze gerichtet; hier dagegen bildete Trostlosigkeit die Kulisse für Exotik. Joey sah bunte Plakate und selbstgemalte Bilder an den Wänden der kargen Baracken hängen.
Wenn ein Lastwagen am Tor eine Fuhre Holzabfälle ablud, waren sie noch vor Einbruch der Dämmerung verschwunden. Wenn Joey in den darauffolgenden Tagen dann im Vorbeigehen einen Blick durch das eine oder andere Fenster warf, entdeckte er aus den Holzresten zusammengezimmerte Regale, Schränke und mit Tüchern bespannte Rahmen, die als behelfsmäßige Paravents verwendet wurden. Genauso behelfsmäßige Vorhänge wurden aufgehängt, um den Wachen oder neugierigen Fremden wie Joey den Blick in die Räume zu verwehren.
Vom Rand aus sah er zu, wie eine neue Gesellschaftsordnung entstand – Komitees, Hierarchien. Leute, die Hilfe leisteten, und Leute, die Hilfe suchten. Überall, wo es Kinder gab, gab es ein Klassenzimmer und Lehrer, mochten Tische und Bänke auch fehlen. Wo es Krankenbetten gab, gab es Krankenschwestern. Man brauchte Helfer für die Feldarbeit? Vierhundert Freiwillige meldeten sich. Handwerker? Noch einmal vierhundert. Bauarbeiter, Müllmänner, Hausmeister, Feuerwehrleute, Fahrer. Frauen pflanzten voll Optimismus um die Baracken herum Sträucher, Büsche und Blumen, um die triste Umgebung etwas freundlicher zu gestalten. Alte Männer legten in einer schattigen Ecke einen japanischen Garten an, nach und nach schleppten sie Steine herbei, Kies, einen verkümmerten Baum, und wässerten alles ununterbrochen, damit sich Moos bildete.
Entschlossen, eine lebensfähige Gemeinschaft zu schaffen, ließen fünfzehntausend Menschen, die steuerlos auf einem Meer aus Angst und Furcht trieben, innerhalb der von Stacheldraht gezogenen Grenzen das Abbild einer normalen Welt erstehen.
Während die anderen ihren Tagesablauf planten, ihre Umgebung verschönerten, Blumen gossen, Kräuter zogen, wuchs Joeys Ärger über ihre Unterwürfigkeit, ihre Art, das Unrecht hinzunehmen, ihre Art, sich zu verbeugen und zu lächeln, mit wachsamen Augen
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