Madame de Maintenon
Kolonialmächte die französische Flagge hissen sollte. Philippe war erleichtert. Es war mehr, als er erwartet hatte, auch wenn das Schiff »nur ein mit sechsunddreißig Kanonen
554 bestücktes Fahrzeug« war, das – mit treffender Ironie, von der er freilich nichts ahnte – den Namen Les Jeux (Die Spiele) trug. Im Laufe des Sommers brach er in die Karibik auf, begleitet von seinem jüngeren Sohn, dem zwölfjährigen Henri-Benjamin. Es war eine lange Hinreise und eine ebenso lange Rückreise, und während der monatelangen Abwesenheit Philippes gedachte Françoise zu handeln.
Die Entführung von Henri-Benjamin, der mit seinem Vater auf hoher See war, würde man verschieben müssen, und den älteren von den Brüdern Saint-Hermine, den »Taugenichts«, würde man vielleicht ganz übergehen können, aber damit blieben immer noch sechs übrig: der Bruder von Henri-Benjamin, der sechzehnjährige Fähnrich zur See Philippe de Villette, und ihre Schwester, die neunjährige Marthe-Marguerite; Louis-Henri, der jüngere von den Brüdern Saint-Hermine, auch er um die sechzehn, und seine jüngeren Schwestern, eine, deren Name nicht überliefert ist, und Marie-Anne-Françoise, die Minette gerufen wurde; und ein Mädchen von etwa gleichem Alter, Mademoiselle Cau
mont d'Adde, Enkelin des bösartigen alten Caumont d'Adde, der Jeanne d'Aubigné wegen ihres Erbes zugesetzt hatte.
Zumindest der junge Philippe würde wahrscheinlich ein leichter Fang sein. Schon mit elf Jahren hatte er nach dem Besuch Françoises in Mursay im Jahr 1675 begriffen, daß es vorteilhaft ist, eine Verwandte am Hof zu haben, und er hatte mit der Bitte um Hilfe an sie und auch an den Kriegsminister geschrieben. Seitdem hatte er sie nur zu gern in Saint-Germain und Versailles besucht, wo seine geringfügige Kampfverletzung und sein Ruf als »kleiner Held« ihm eine wohlwollende Aufnahme sicherte. Doch als es darum ging, seinem Glauben abzuschwören, hatte er sich als recht unbeugsam erwiesen, »aber davon müssen wir uns
555 nicht abschrecken lassen«, schrieb Françoise entschlossen. Und tatsächlich konnte sie Anfang Dezember 1680, als Philippe père noch in sicherer Entfernung in der Karibik weilte, an Charles schreiben: »Unser kleiner Neffe
556 ist jetzt katholisch; ich habe ihn hier bei mir. Er entwickelt sich zu einem richtigen Höfling. Ich hoffe, daß der König etwas für ihn tun wird; er ist durchaus vorzeigbar. Jetzt erwarte ich [Louis-Henri de] Saint-Hermine, und ich werde mein möglichstes tun, auch ihn zu bekehren.«
Die Aufgabe, Louis-Henri zu entführen, hatte Françoise dem eher unwilligen Charles übertragen. Wie er es schaffte, weiß man nicht, aber innerhalb von zwei Wochen wurde der Junge am Hof abgeliefert. Allerdings war er weit weniger entgegenkommend als sein Cousin. »Monsieur de Saint-Hermine
557 kam heute an«, ließ Françoise ihren Bruder wissen, »und er wird mir wohl etwas mehr Mühe machen … Minette mochte ich jedoch sehr, als ich sie sah … Wenn Du sie mir schicken könntest, wäre ich sehr erfreut. Es gibt kein anderes Mittel als Gewalt, denn die Familie wird über Philippes Bekehrung alles andere als glücklich sein. Du mußt sie also dazu bringen, daß sie mir schreibt, daß sie katholisch werden möchte. Diesen Brief schickst Du mir, und ich schic
ke Dir daraufhin einen lettre de cachet [königlichen Befehl, dem unbedingt Folge zu leisten ist – Anm. d.Ü.], den Du benutzen kannst, um Minette zu Dir zu nehmen, bis Du sie mir schicken kannst … Kümmere Dich darum. Ich hege eine Zuneigung für dieses kleine Mädchen, und Du würdest mich Dir zu Dank verpflichten und einfach außerdem noch eine gute Tat vollbringen.«
Charles tat ihr den Gefallen, indem er den hugenottischen Behörden vor Ort glaubhaft vorschwindelte, es handele sich um einen Weihnachtsbesuch am Hof bei seinen kleinen Verwandten, Mademoiselle de Saint-Hermine und ihrer Schwester Minette sowie Mademoiselle de Caumont d'Adde. Die Entführung des jüngsten Mädchens, Marthe-Marguerite de Villette, überließ man ihrer Tante Aymée, jetzt Madame Fontmort, die dem Plan ohne erkennbares Zögern zustimmte. Aymée hatte bereits nicht weniger als dreimal zwischen Protestantismus und Katholizismus gewechselt, sei es, weil ein starkes religiöses Empfinden sie trieb, sei es, weil sie bloß wiederholt das »Bekehrungsentgelt« kassieren wollte. »Gott, der alles weiß
558 , weiß nicht, welcher Religion meine Schwester angehört«, hatte ihr Bruder ironisch
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