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Madame Hemingway - Roman

Madame Hemingway - Roman

Titel: Madame Hemingway - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paula McLain
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älter war, mir aber trotzdem sehr nah stand. Sie hatte jung geheiratet und lebte mit ihrem Ehemann Dudley in der Nähe. Da wir den geringsten Altersunterschied hatten, verbrachte ich den größten Teil meiner Kindheit in Begleitung von Fonnie, obwohl wir kaum unterschiedlicher hätten sein können. Sie war gehorsam und formbar und gut auf eine Weise, die meine Mutter leicht nachvollziehen und loben konnte. Ich dagegen war impulsiv und gesprächig und wollte immer alles ganz genau wissen – für den Geschmack meiner Mutter war ich viel zu neugierig. Ich saß gern mit den Ellbogen auf die Knie gestützt am Ende unserer Einfahrt und beobachtete die Straßenbahn, die in der Mitte des Boulevards entlangrollte. Ich fragte mich, wohin die Männer und Frauen darin fuhren, woran sie gerade dachten und ob sie mich wahrnahmen, wie ich da saß und sie wahrnahm. Meine Mutter rief mich stets zurück ins Haus und schickte mich ins Kinderzimmer, doch dann schaute ich eben verträumt aus dem Fenster.
    »Zu was könntest du nur einmal nützlich sein?«, fing sie oft an. »Du kannst das Tagträumen einfach nicht lassen.«
    Ich schätze, die Frage hatte durchaus ihre Berechtigung. Sie sorgte sich um mich, da sie mich einfach nicht verstand. Und dann passierte etwas Schreckliches. Als ich sechs Jahre alt war, brachte ich es fertig, mich geradewegs aus dem Fenster hinauszuträumen.
    Es war ein Frühlingstag, und ich war nicht in der Schule, weil ich krank war. Als ich mich im Kinderzimmer zu langweilen begann, was meist recht schnell geschah, ging ich dazu über, unseren Handwerker Mike zu beobachten, der eine Schubkarre über unseren Hof schob. Ich war ganz verrückt nach Mike und fand ihn tausendmal interessanter als irgendjemanden aus meiner Familie. Er hatte eckig geschnittene Fingernägelmit lauter Einkerbungen, und er pfiff vor sich hin und trug immer ein hellblaues Taschentuch bei sich.
    »Was hast du denn vor, Mike?«, rief ich aus dem Kinderzimmerfenster und reckte den Hals weiter vor, um ihn besser sehen zu können.
    In dem Augenblick, in dem er hochschaute, verlor ich die Balance und krachte auf das Pflaster.
     
    Ich lag monatelang im Bett, und die Ärzte fragten sich, ob ich je wieder würde laufen können. Ich erholte mich nur langsam, und meine Mutter ließ einen Kinderwagen speziell für mich umbauen. Sie genoss es, mich in der Gegend herumzufahren und vor jedem Haus anzuhalten, damit die Nachbarn das Wunder meines Überlebens gebührend würdigen konnten.
    »Arme Hadley«, sagte meine Mutter dann. »Armes Hühnchen.« Sie wiederholte diese Worte so oft, bis sie sich in meinem Kopf einnisteten und jede andere Beschreibung meiner selbst sowie jeden anderen Ausgang der Geschichte verdrängten.
    Dass ich schließlich vollkommen geheilt wurde und wieder ohne jegliches Humpeln laufen konnte, zählte nicht. Meine körperliche Verfassung war und blieb eine beständige Sorge in unserem Haus. Sobald ich auch nur schniefte, sah man mich sogleich in Gefahr. Ich lernte nicht schwimmen und durfte weder rennen noch mit meinen Freunden im Park spielen. Stattdessen saß ich im Wohnzimmer auf der Fensterbank, hinter buntem Glas und weinroten Vorhängen, und las Bücher. Und nach einer Weile gab ich selbst den inneren Kampf gegen die verschriebene Ruhe auf. Bücher konnten ein unglaubliches Abenteuer sein. Ich bewegte mich unter meiner Decke kaum, und dabei konnte kein Mensch ahnen, wie mein Geist davonjagte und mein Herz sich öffnete, während ich die Geschichten las. Ich konnte mich in jede beliebige Welt begeben, ohne dass jemand es bemerkte, während meine Mutterden Hausangestellten Befehle zubellte oder ihre lästigen Freundinnen im Nebenzimmer unterhielt.
    Als mein Vater noch am Leben war, bekam ich häufig mit, wie er nach Hause kam, wenn die Frauen noch versammelt waren. Sobald er sie hörte, erstarrte er, ging rückwärts und stahl sich durch die Tür wieder nach draußen.
Wo geht er jetzt hin?
, fragte ich mich. Wie weit musste er gehen und wie viel Whiskey benötigte er, um die Stimme meiner Mutter in seinem Kopf zum Schweigen zu bringen? Erinnerte er sich noch an die Zeit, in der er so gern Fahrrad gefahren war? Ich tat es. Damals hatte er gern alle Strecken in St. Louis mit dem Fahrrad zurückgelegt, das er allen anderen Verkehrsmitteln vorzog, wahrscheinlich wegen der Freiheit, die es ihm bot. Einmal hatte er einen Karren darangehängt und Fonnie und mich durch den Forest Park gefahren und dabei
Waltzing Matilda
gesungen.

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