Madame Hemingway - Roman
Er hatte eine herrliche Baritonstimme, und während uns an diesem Tag hinten im Karren nur einzelne Fetzen des Liedes zuwehten, erschien mir sein Glück so greifbar und seltsam, dass ich mich gar nicht bewegen wollte, aus lauter Angst, es zu verschrecken.
***
An einem kalten Februarmorgen ertönte in unserem Haus ein einzelner Schuss. Meine Mutter hörte ihn zuerst und wusste sofort, was geschehen war. Sie hatte sich nicht gestattet, das Wort
Selbstmord
zu denken, da es viel zu furchtbar und gewöhnlich gewesen wäre, aber sie hatte es dennoch halb erwartet. Unten in seinem Arbeitszimmer fand sie hinter der verschlossenen Tür meinen Vater mit zerschmettertem Schädel in einer Lache aus Blut auf dem Teppich.
Noch Wochen später dröhnte der Lärm des Todes meines Vaters durchs Haus. Wir erfuhren, dass er Zehntausende Dollar an der Börse verloren hatte, dass er sich Geld geliehen und dieses ebenfalls wieder verloren hatte. Wir wussten bereits, dasser trank, nicht aber, dass er in seinen letzten Wochen kaum etwas anderes getan hatte, geplagt von unerträglichen Kopfschmerzen, die ihn nicht schlafen ließen. Er hatte große Geldsummen an einen Scharlatan gezahlt, der ihm ein Heilwasser verabreichte, das genauso viel medizinischen Nutzen hatte wie Leitungswasser. Es half nicht; nichts half.
Als er fort war, blieb meine Mutter in ihrem Zimmer, weinte bestürzt und starrte die zugezogenen Vorhänge an, während die Hausmädchen sich um alles kümmerten. Ich hatte noch nie ein solches Chaos in unserem Haus erlebt und wusste nicht, was ich tun konnte, außer Chopins Nocturnen zu spielen und um meinen Vater zu weinen, den ich so gern besser gekannt hätte.
Die Tür zum Arbeitszimmer meines Vaters blieb eine Weile zu, aber nicht verschlossen. Der Teppich war gereinigt, aber nicht erneuert worden, der Revolver war entleert und poliert und dann zurück in seine Schreibtischschublade gelegt worden. All diese Einzelheiten waren so schrecklich, dass sie eine ungeheure Anziehungskraft auf mich ausübten. Wieder und wieder stellte ich mir die letzten Augenblicke seines Lebens vor. Wie einsam er sich gefühlt haben musste. Wie betäubt und hoffnungslos, denn sonst hätte er es doch wohl kaum fertiggebracht, die Mündung auf sich zu richten und den Abzug zu drücken.
Meine Stimmung wurde so getrübt, dass meine Familie sich Sorgen machte, ich könne mir etwas antun. Jeder wusste, dass Kinder von Selbstmördern gefährdeter waren, denselben Weg einzuschlagen. War ich wie er? Ich wusste es nicht, doch zumindest hatte ich seine Migräne geerbt. Die Kopfschmerzen waren jedes Mal eine fürchterliche Heimsuchung, und ich verspürte einen starken Druck und Übelkeit sowie ein dumpfes, konstantes Pochen in der Tiefe meines Schädels, während ich vollkommen still in meinem stickigen Zimmer lag. Wenn ichlang genug so liegen blieb, kam meine Mutter herein, tätschelte meine Hand, steckte die Decke um meine Füße herum fest und sagte: »Hadley, du bist ein gutes Mädchen.«
Mir entging nicht, dass meine Mutter mich liebevoller behandelte, wenn ich krank war, also ist es wohl kein Wunder, dass ich es so oft war oder es mir zumindest einbildete. Ich hatte schließlich so viele Unterrichtsstunden verpasst, dass ich ein Jahr wiederholen musste, während all meine Freundinnen ohne mich aufs College wechselten. Es war, als würde ich dabei zusehen, wie ein Zug den Bahnhof verließ, der zu einem abenteuerlichen, exotischen Ort fuhr, und ich besaß weder eine Fahrkarte noch die Möglichkeit, eine zu erwerben. Als die ersten Briefe aus Barnard, Smith und Mount Holyoke eintrudelten, wurde mir ganz schlecht vor Neid über die Aufregung und Verheißungen im Leben meiner Freundinnen.
»Ich möchte mich fürs Bryn Mawr bewerben«, erklärte ich meiner Mutter. Ihre Schwester Mary lebte in Philadelphia, und ich dachte, es könnte meine Mutter beruhigen, eine Verwandte in der Nähe zu wissen.
»Ach, Hadley. Warum willst du dich nur immer übernehmen? Sei doch realistisch.«
Fonnie betrat das Zimmer und setzte sich neben Mutter. »Was ist mit deinen Kopfschmerzen?«, fragte sie.
»Es wird mir bestimmt gutgehen.«
Fonnie zog skeptisch eine Augenbraue hoch.
»Mary kann sich um mich kümmern, wenn irgendetwas passiert. Du weißt doch, wie kompetent sie ist.« Ich betonte das Wort
kompetent
mit Nachdruck, da meine Mutter es liebte und sich oft davon überzeugen ließ. Für den Moment seufzte sie jedoch nur und sagte, sie würde ernsthaft darüber
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