Madame Hemingway - Roman
fürchterliche Kopfschmerzen«, erklärte ich meiner Mutter meinen plötzlichen Drang zum Aufbruch.
»Aber natürlich«, sagte sie mit sanfter Miene. »Bringen wir unser Mädchen rasch ins Bett.«
Zu Hause angekommen, ließ ich mich von ihr die Treppe hinaufführen und in mein Musselin-Nachthemd stecken. Sie deckte mich mit mehreren Decken zu, legte mir ihre kühle Hand auf die Stirn und strich mir dann übers Haar. »Ruh dich nur aus.«
»Ja«, antwortete ich, da ich ihr unmöglich erklären konnte, dass ich nun schon seit einundzwanzig Jahren ruhte, heute Abend aber etwas ganz anderes angestrebt hatte.
Das war meine einzige flüchtige Begegnung mit der Liebe gewesen. Und war es wirklich Liebe? Es hatte sich schlimm genug angefühlt. Ich wälzte mich noch zwei Jahre in meinem Unglück, rauchte zu viel, nahm zu sehr ab und dachte von Zeit zuZeit daran, wie eine der gequälten Heldinnen in den russischen Romanen von meinem Balkon zu springen. Nach einer Weile, wenn auch langsamer, als mir recht war, erkannte ich, dass Harrison nicht mein gescheiterter Märchenprinz und ich nicht sein Opfer war. Er hatte mich in keiner Weise hinters Licht geführt, das hatte ich
selbst
getan. Doch über fünf Jahre danach wurde mir beim Gedanken an die Liebe immer noch mulmig. Ich war offensichtlich so naiv wie je zuvor und brauchte dringend jemandes Rat – Kates zum Beispiel.
Wir marschierten an diesem Tag durch ganz Chicago, zunächst auf der Suche nach dem besten Corned Beef, dann nach neuen Handschuhen. Ich ließ mich von Kates Geplauder ablenken und war dankbar, dass sie mich vor Ernest gewarnt hatte. Selbst wenn seine Absichten über jeden Verdacht erhaben sein mochten, war ich viel zu leicht zu beeindrucken. Die Reise nach Chicago hatte mich zerstreuen sollen, und dieses Ziel hatte ich erreicht, zu große Hoffnungen waren jedoch gefährlich. Ich war zwar unglücklich zu Hause, aber mich in Tagträume von Ernest Hemingway zu stürzen, würde mir auch nicht weiterhelfen. Mein Leben war mein Leben; ich musste ihm festen Blickes entgegentreten und mich damit abfinden.
Ich verbrachte noch eine ganze Woche in Chicago, und jeder einzelne Abend war neu und aufregend. Wir besuchten ein Football-Match, sahen uns eine Nachmittagsvorstellung von
Madame Butterfly
an und streiften Tag und Nacht durch die Stadt. Ernest war oft dabei, und wann immer ich ihn sah, versuchte ich, einen klaren Kopf zu bewahren und einfach nur seine Anwesenheit zu genießen, ohne irgendein Drama heraufzubeschwören. Vielleicht war ich ihm gegenüber ein wenig zurückhaltender als zuvor, doch er sagte nichts und zwang mir bis zu meinem letzten Abend in der Stadt auch nicht seine Nähe auf.
An diesem Abend herrschten eisige Temperaturen, und es war eigentlich viel zu kalt, um nach draußen zu gehen, doch ein paar von uns schnappten sich einige Wolldecken, schütteten Rum in Feldflaschen, zwängten sich in Kenleys Ford und fuhren hinaus zum Lake Michigan. Vor uns lagen die Dünen hell und steil im Mondlicht, und wir dachten uns ein Spiel aus, bei dem wir – natürlich betrunken – auf eine Düne kletterten und uns dann wie Baumstämme hinunterrollen ließen. Kate machte den Anfang, da sie stets bei allem die Erste sein wollte, dann folgte Kenley, der auf dem ganzen Weg nach unten sang. Als ich an der Reihe war, kroch ich auf allen vieren die Düne hinauf, während der Sand unter meinen Händen und Füßen davonrieselte. Oben angekommen, schaute ich mich um und war gebannt von der riesigen Weite und den leuchtenden, gefrorenen Sternen.
»Komm schon, Feigling!«, rief Ernest zu mir hoch.
Ich schloss meine Augen, ließ mich fallen und rollte über harte Unebenheiten hinweg. Ich hatte so viel getrunken, dass ich nichts mehr spüren konnte – außer einem aufregenden Gefühl von unbändiger Freiheit. Es war ein geradezu euphorischer Moment, bei dem Angst die Hauptrolle spielte. Zum ersten Mal seit meiner Kindheit erlebte ich das berauschende Gefühl von Angst, und ich genoss es. Ich war kaum unten angelangt, da riss Ernest mich im Dunkeln nach oben und küsste mich fest auf den Mund. Einen brennenden Augenblick lang spürte ich seine Zunge auf meinen Lippen.
»Oh«, war alles, was ich hervorbrachte. Ich konnte nicht darüber nachdenken, ob jemand uns gesehen hatte. Ich konnte überhaupt nicht mehr denken. Sein Gesicht war nur Zentimeter von meinem entfernt, und es erschien mir bedeutungsschwerer, überzeugender und insgesamt wacher als jedes andere
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