Madame Hemingway - Roman
nachdenken, was bedeutete, dass sie unsere Nachbarin Mrs. Curran und ihr Hexenbrett zu Rate ziehen würde.
Mutter interessierte sich schon seit langem für okkulte Praktiken. Hin und wieder wurden Séancen in unserem Haus abgehalten, doch meistens fanden sie bei Mrs. Curran ein paar Häuser weiter statt. Laut meiner Mutter war sie eine Meisterin der übernatürlichen Dinge und pflegte einen sehr vertrauten und überzeugenden Umgang mit dem Brett. Ich wurde nicht eingeladen, an der Sitzung teilzunehmen, doch als Mutter von Mrs. Curran zurückkehrte, verkündete sie mir, dass ich schließlich doch aufs Bryn Mawr College gehen könne und dass alles gut werden würde.
Hinterher wunderte ich mich nur noch über Mrs. Currans Prophezeiung, da sie ganz offensichtlich falsch war. Ich machte mich zwar tatsächlich im Jahr 1911 auf den Weg, aber das ganze Unternehmen schien von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Im Sommer vor meinem Auszug erlitt meine ältere Schwester Dorothea während eines Feuers schreckliche Brandverletzungen. Auch wenn sie in meiner Jugend längst nicht mehr zu Hause wohnte, war Dorothea für mich dennoch diejenige in unserer Familie gewesen, die am nettesten zu mir war und mich am meisten unterstützte, und ich hatte das Gefühl, dass sie mich viel besser verstand, als die anderen es konnten oder wollten. Wenn ich mich zu Hause eingeengt fühlte, lief ich zu ihr hinüber und entspannte mich, während ich zusah, wie ihre zwei kleinen Jungs um sie herumtobten.
In jenem Sommer war Dorothea hochschwanger. Sie war oft mit den Kindern allein zu Hause, und eines Tages saßen sie gerade auf der Veranda, als Dorothea den brennenden Reifenhaufen auf dem leerstehenden Grundstück nebenan bemerkte. Die Jungs waren neugierig, doch Dorothea hatte Angst, das Feuer könne auf ihren Hof übergreifen. Also rannte sie hinüber und versuchte die Flammen auszutreten, doch ihr langer Sommerkimono fing rasch Feuer. Dasselbe galt für ihre Strümpfe, so dass sie bis zur Taille hinauf schwere Verbrennungen erlitt,bevor sie sich endlich auf den Boden warf und sich hin und her rollte, um die Flammen zu löschen.
Wir befanden uns gerade in unserem Ferienhaus in Ipswich Bay, als ihr Mann Dudley uns anrief und erzählte, was geschehen war. Wir waren alle krank vor Sorge um Dorothea, aber Dudley versicherte uns, sie werde im Krankenhaus bestens versorgt. Sie habe kein Fieber, und die Ärzte seien überzeugt, dass sie sich wieder vollständig erholen werde. Am nächsten Tag kam sie mit einem toten Mädchen nieder. Dorothea und Dudley waren am Boden zerstört, doch die Ärzte behaupteten immer noch, sie würde es überleben. Und sie wiederholten es immer wieder, bis sie schließlich acht Tage nach dem Feuer starb. Mutter fuhr mit dem Zug zur Beerdigung, aber der Rest von uns blieb untröstlich und wie betäubt in Ipswich zurück.
Ich weiß noch, dass ich das Gefühl hatte, ich würde Dorotheas Verlust nicht überleben, würde es vielleicht auch gar nicht wollen. Mutter kam mit Dudley und den Jungs aus St. Louis zurück. Sie sahen so elend aus, als sie aus dem Zug stiegen, und was sollte ich zu ihrem Trost sagen?
Sie haben keine Mutter mehr
, war das Einzige, was ich denken konnte.
An einem Nachmittag kurz nach der Beerdigung gab es vor Ipswich Bay einen fürchterlichen Sturm, und ich überredete einen Jungen aus der Nachbarschaft, mich in einem Ruderboot mitten hineinzufahren. Die Wellen klatschten gegen den Bug und spritzten über die Seiten des Bootes scharf in unsere Gesichter. Ich konnte noch nicht einmal schwimmen, aber er kehrte nicht um, auch dann nicht, als der Leuchtturmwärter uns das Signal dafür gab. Die Wolken hingen bedrohlich niedrig, und die Luft war nass und salzig. Ich hatte die ganze Zeit über das Gefühl zu ertrinken. Selbst als wir das Ufer wieder erreicht hatten, war ich innerlich noch draußen in der Bucht und sank immer tiefer, und dieses Gefühl verließ mich den ganzen Sommer und noch lange Zeit danach nicht mehr.
Im September stieg ich wie geplant in den Zug, der mich zum Bryn Mawr bringen sollte, doch meine Klassenkameradinnen dort schienen sich auf einer ganz anderen Frequenz zu bewegen. Die Mädchen in meinem Wohnheim verbrachten ihre Nachmittage damit, im Salon Tee und heiße Schokolade mit Schaumkrone zu trinken und sich über Tanzveranstaltungen und mögliche Eroberungen zu unterhalten. Ich fühlte mich von allem ausgeschlossen. Als Kind wusste ich, dass ich hübsch war mit meinem leuchtend
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