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Madame Hemingway - Roman

Madame Hemingway - Roman

Titel: Madame Hemingway - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paula McLain
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roten Haar, meinen großen Augen und meiner hellen Haut, doch nun war es mir völlig gleichgültig, ob die Jungs mich bemerkten oder nicht. Ich hatte weder Interesse an meiner Kleidung noch an meinem Studium. Ich fiel bei Prüfungen durch, was eine überraschende und verstörende Erfahrung für mich war, da ich trotz meiner langen Abwesenheiten stets eine gute Schülerin gewesen war. Nun stellte ich fest, dass ich keinerlei Konzentration, Aufmerksamkeit oder auch nur Interesse aufbringen konnte.
    Im nächsten Herbst ließ ich mich von Fonnie und meiner Mutter dazu überreden, zu Hause zu bleiben. Ich kann jedoch nicht behaupten, dass ich mich dort wohler fühlte als in der Schule. Im Haus gab es keinen Ort, an dem ich meinen düsteren Gedanken entkommen konnte. Ich konnte kaum schlafen, und wenn es mir einmal gelang, hatte ich schreckliche, zwanghafte Träume von Dorothea und meinem Vater, in denen ich die letzten furchtbaren Momente ihres Lebens nachspielte. Ich wachte stets mit einem Gefühl von Panik auf, nur um weitere freudlose Tage und Nächte vor mir zu wissen. Und wenn ich jetzt sage, dass ich insgesamt acht Jahre in diesem komaähnlichen Zustand verbrachte, wird vielleicht verständlich, wie sehr ich bereit dafür war, endlich zu leben, als meine Mutter gerade im Sterben lag.
     
    Meine Mutter litt seit Jahren an einer Nierenerkrankung, doch im Sommer 1920 verschlimmerte sich ihr Gesundheitszustand drastisch. In den heißesten Wochen im Juli und August verließ ich die Wohnung im ersten Stock kaum noch, und wenn ich es doch tat, war sie jedes Mal furchtbar besorgt.
    »Elizabeth? Bist du das?«, rief sie schwach, sobald sie meine Schritte auf der Treppe vernahm. Ich wusste nicht, warum sie mich nach all den Jahren plötzlich bei meinem Taufnamen rief, aber das war nicht die einzige Sache, die mich an ihr verwunderte. Sie ähnelte überhaupt nicht mehr der unerschütterlichen, schwierigen Frau, die mich mit einem einzigen Wort vernichten konnte. Ihre Stimme klang gebrechlich und angstvoll, wenn sie mich ein zweites Mal rief, während ich die Treppe hocheilte: »
Elizabeth?
«
    »Ich bin hier, Mutter.« Ich betrat das Zimmer, in dem sie auf dem zerschlissenen rosa Sofa lag. Ich stellte die Einkaufstaschen auf den Boden und nahm meinen Hut ab. »Ist dir zu warm? Soll ich ein Fenster aufmachen?«
    »Ist es warm?« Ihre Hände kneteten die Decke auf ihrem Schoß. »Ich bin völlig durchgefroren.«
    Ich zog einen Stuhl ans Sofa, nahm ihre Hände in meine und rieb sie, dass sie besser durchblutet wurden, doch wo ich auch hinfasste, hinterließen meine Fingerspitzen deutliche Abdrücke, als bestünde sie aus Brotteig. Ich ließ sie los, und sie begann zu wimmern.
    »Was kann ich tun?«
    »Hol deine Schwester. Ich muss Fonnie bei mir haben.«
    Ich nickte und stand auf, doch ihre Augen weiteten sich. »Geh nicht, bitte verlass mich nicht.« Also setzte ich mich wieder hin, und so ging es den ganzen Abend lang. Sie nahm ein wenig Brühe zu sich und fiel für ein paar Stunden in einen leichten Schlaf. Um Mitternacht herum wurde sie dann plötzlich ganz ruhig.
    »Elizabeth, ich mache mir große Sorgen um dich«, sagte sie. »Was wird aus dir, wenn ich fort bin?«
    »Ich bin eine erwachsene Frau, Mutter. Ich werde zurechtkommen. Ich verspreche es dir.«
    »Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Vor Jahren haben Mrs. Curran und ich versucht, mit Dorothea über dich zu sprechen.« Das Atmen fiel ihr schwer, und ich wollte nicht, dass sie sich so sehr anstrengte.
    »Sch. Das hat nichts zu bedeuten.«
    »Doch, das hat es. Wir haben sie mehrmals nach dir gefragt, aber sie hat uns jedes Mal abblitzen lassen. Sie hatte nichts zu sagen.«
    Ich war dem Okkulten gegenüber immer skeptisch gewesen – dem Board, den Séancen bei gedämpftem Kerzenlicht und dem automatischen Schreiben unter mit roten Tüchern abgehängten Lampen –, doch nun durchfuhr mich ein eisiger Schauder. War es möglich, dass Mutter tatsächlich mit Dorothea, die seit neun Jahren tot war, in Kontakt getreten war? Und wenn es so war, warum hatte meine Schwester mir dann den Rücken zugekehrt? Wusste sie etwas Schlimmes und Trauriges über mein Schicksal? Diese Vorstellung machte mir Angst, aber ich konnte sie nicht komplett ausschließen. Ich konnte meine Mutter auch nicht bitten, mir mehr von der Sitzung zu erzählen, da sie erschöpfter und ängstlicher als je zuvor war. Ich war mir auch nicht ganz sicher, ob ich es überhaupt wissen wollte. Was, wenn meine

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