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Madame Hemingway - Roman

Madame Hemingway - Roman

Titel: Madame Hemingway - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paula McLain
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greifen oder den Schmerz und das Zittern und die schreckliche Angst auszuhalten? Er wusste es nicht mit Sicherheit, doch nach dieser ersten Waffe hatte er noch nach vielen weiteren gegriffen. Wenn die Zeit gekommen war, würde er ein Gewehr nehmen und ganz einfach mit seinem nackten Zeh abdrücken. Er wollte es nicht tun, aber wenn es zu schlimm wurde – wenn es wirklich richtig schlimm wurde –, dann war Selbstmord immer zulässig.

Einundvierzig
    Am Golfe-Juan entlang führte eine weiße Straße in die Felsen. Man konnte auf ihr zehn, zwanzig oder dreißig Kilometer mit dem Fahrrad fahren und auf die glänzenden Boote an den Kais, die Kieselstrände und manchmal auch auf eine unglaublich weich aussehende Sandbank hinunterblicken. Badende ruhten unter fröhlich rot-weiß gestreiften Sonnenschirmen und sahen dabei aus, als wären sie einem Gemälde entsprungen. Wie alles andere auch: die Fischer mit ihren dunklen Kappen, die ihre Netze auswarfen, die Steinwälle, die Antibes vor Unwettern schützten, und die roten Dächer des Dorfes, die sich in Terrassen die Hügel hinaufzogen.
    Pauline und ich fuhren oft nach dem Frühstück zusammen hinaus, während Ernest arbeitete. Es war nicht meine Idee gewesen, aber wir befanden uns nun einmal in diesem Paradies und mussten uns irgendwie beschäftigen. Da die Villa Paquita nur bis Anfang Juni gemietet war, nahmen wir uns zwei Zimmer im Hôtel de la Pinède in Juan-les-Pins. Bumby und Marie Cocotte schliefen in der Nähe in einem kleinen Bungalow unter Pinien. Die Medikamente gegen seinen Keuchhusten hatten langsam zu wirken begonnen, und es ging ihm Tag für Tag ein wenig besser. Er bekam wieder Farbe und schlief gut, und wir sorgten uns kaum noch um ihn. Die Quarantäne war aufgehoben, doch wir blieben tagsüber trotzdem unter uns, bildeten unsere eigene kleine Insel, während ein paar Kilometer weiter auf der Halbinsel die Murphys, die Fitzgeralds und die MacLeishs in der Villa America genauso weitermachten wie zuvor, um Punkt halb elf Sherry und Gebäck zu sich nahmen, um halb zwei Tavel zu Kaviar und Toast tranken und aufeinem eigens dafür aufgestellten prächtigen blaugrünen Mosaiktisch am Strand Bridge spielten. Das Bild auf der Tischplatte zeigte eine Sirene mit wehendem Haar. Sie saß auf einem Felsen und blickte in die Ferne. In der Villa America liebten alle die Sirene, da sie ein Symbol für irgendetwas zu sein schien. Sie liebten sie so, wie sie ihren Sherry und ihre Toasts und jedes ihrer Rituale liebten.
    Im Hôtel de la Pinède hatten wir unsere eigenen Rituale. Wir frühstückten spät, dann ging Ernest in sein kleines Arbeitszimmer, das auf die Terrasse führte, und Pauline und ich fuhren Fahrrad oder schwammen und sonnten uns mit Bumby an unserem kleinen Strand. Nach dem Lunch hielten wir Siesta, dann badeten wir und zogen uns an, um in einem der Terrassengärten der Villa America oder im Casino in der Stadt Cocktails trinken zu gehen. Niemand zog in unserer Gegenwart auch nur eine Augenbraue hoch oder sagte irgendetwas Geschmackloses, denn das war die Vereinbarung.
    Jeder, der uns von einem beliebigen Punkt aus beobachtet hätte, würde geglaubt haben, Pauline und ich wären Freundinnen. Vielleicht hat sie es sogar selbst geglaubt. Ich war mir nie sicher. Sie gab sich zweifellos Mühe, gut gelaunt zu bleiben, dachte sich Gründe aus, ins Dorf zu gehen, um dort dann frisch gepflückte Feigen oder die besten eingelegten Sardinen aufzutreiben.
    »Wartet nur, bis ihr diese Oliven probiert habt«, sagte sie dann, oder was es auch war – starker Kaffee oder Gebäck oder eine Marmelade. »Das ist himmlisch.«
    Ich muss sie in jenem Sommer ungefähr tausendmal »das ist himmlisch« sagen gehört haben, bis ich nur noch schreien wollte. Allerdings schrie ich nicht, und das wurde zu einem der Dinge, die ich mehr und mehr bereute.
    Im Hotel hatten wir zwei Zimmer, jedes mit einem Doppelbett, einem schweren Schreibtisch und Fensterläden, die sichin Richtung Küste öffneten. Ernest und ich schliefen in einem davon, und Pauline blieb allein in dem anderen – zumindest am Anfang. Etwa zehn Tage lang entschuldigte sich Pauline, wenn wir vom Fahrradfahren oder Schwimmen zurückkamen, um sich zum Lunch umzukleiden, doch dann verschwand sie stattdessen in Ernests Arbeitszimmer. Sie durchquerte dabei das Hotel, bis sie zu einer zweiten Tür zu diesem Zimmer kam, an der kein Schild hing und die so unverdächtig wie ein Besenschrank wirkte. Wahrscheinlich hatten sie ein

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