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Madame Hemingway - Roman

Madame Hemingway - Roman

Titel: Madame Hemingway - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paula McLain
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mir nichts schuldig und hatte mir kein einziges Versprechen gegeben, nicht einmal ein falsches. Wenn er es so wollte, konnte er diesem grünen Wesen wie einer Sirene ins Wasser folgen. Ich hatte keinerlei Macht über ihn.
    Tatsächlich schien niemand mehr über irgendjemanden Macht auszuüben. Es war ein Zeichen jener Zeit. Wir traten damals alle über die Schwelle, jung, erwartungsvoll und mit einem Jazzsong auf den Lippen. Im Jahr zuvor war
The Flapper
mit Olive Thomas in die Kinos gekommen, und plötzlich bedeutete dieses Wort Jazz, und alles bewegte sich auch so. Überall im Land legten die Mädchen ihre Korsetts ab, kürzten ihre Kleider und schminkten sich die Augen und Lippen dunkel. Wir fanden plötzlich alles »edelknorke« und »knallkomisch« und »tollschick«. Im Jahr 1921 bedeutete Jungsein alles, aber gerade das bereitete mir Bauchschmerzen. Ich war neunundzwanzig und kam mir schon veraltet vor, doch Ernest war erst einundzwanzig und sprühte nur so vor Leben. Was hatte ich mir nur dabei gedacht?
    »Vielleicht bin ich nicht für dieses Spiel geschaffen«, sagte ich meiner Mitbewohnerin Ruth gegenüber, nachdem ich Ernests Sirenenbrief bekommen hatte. Bertha war ausgegangen, und Ruth und ich bereiteten das Abendessen vor, wobei wir uns, perfekt aufeinander eingespielt, durch die kleine Küche bewegten, die Bohnen putzten und Wasser für die Spaghetti kochten, wie zwei alte Jungfern, die diese Handgriffe seit Jahrzehnten ausführten.
    »Ich weiß nicht, ob überhaupt irgendjemand dafür geschaffen ist«, erwiderte Ruth, gab Salz ins Wasser und streute sich ein wenig davon als Glücksbringer über die Schulter. Sie hatte wunderbar starke Hände, ich musste sie immer wieder beobachten und wünschte mir dabei heimlich, ein bisschen mehr so zu sein wie sie. Sie drehte sich zu mir um und schenkte mir ein gequältes Lächeln: »Aber was sollen wir sonst tun? Wenn wir aufgeben, sind wir doch schon erledigt.«
    »Ich würde mich am liebsten unter dem Bett verstecken und nicht mehr hervorkommen, bis ich alt und tatterig bin und mich nicht mehr daran erinnern kann, je etwas für irgendjemanden empfunden zu haben.«
    Sie nickte. »Das möchtest du vielleicht, aber du wirst es nicht tun.«
    »Gut, ich werde es nicht tun.« Ich umrundete den kleinen Tisch und platzierte die Teller und unser zweitbestes Silberbesteck darauf und strich die beiden Servietten glatt. »Oder zumindest werde ich versuchen, es nicht zu tun.«
     
    Ich wollte unbedingt zurück nach Chicago und wieder im Wohnzimmer von Kenleys großer alter Wohnung sein, mit dem Klavier, dem Victrola, dem knubbeligen Teppich, der beiseitegeschoben wird, damit zwei Personen miteinander tanzen können. Ich wollte in ein paar unvorstellbar klare braune Augen blicken und wissen, was dieser hübsche Junge denkt.Ich wollte ihn küssen und meinen Kuss erwidert bekommen.
    Mitte Januar heckten meine Freundin Leticia Parker und ich einen Plan aus. Sie würde mich für eine Woche einladen. Wir würden in einem Hotel wohnen und einkaufen gehen, und ich könnte Ernest so oft sehen, wie ich wollte. Doch zwei Tage vor unserer geplanten Abreise rief Leticia mich an und sagte ab. Ihre Mutter war krank, und sie konnte einfach nicht für eine so lange Zeit fortbleiben. Natürlich verstand ich sie. Meine eigene Mutter war monatelang krank gewesen, und ich wusste, was dies einem abverlangte. Dennoch war ich völlig niedergeschmettert. Alles hatte seit Wochen festgestanden. Ernest wollte uns am Bahnhof abholen, und ich hatte mir allein diesen Augenblick schon mehr als hundertmal in allen Einzelheiten vorgestellt.
    »Was mache ich denn jetzt?«, beklagte ich mich an jenem Abend bei Ruth.
    »Fahr«, sagte sie.
    »Allein?«
    »Warum denn nicht? Wir leben schließlich nicht mehr im Mittelalter. Und letztes Mal bist du doch auch allein gefahren.«
    »Da gab es unsere Verbindung aber auch noch nicht. Fonnie wäre gar nicht begeistert.«
    »Ein Grund mehr, zu fahren«, erwiderte Ruth lächelnd.
     
    Am Abend meiner Abreise nach Chicago brachte mich Fonnies Ehemann Roland in seinem neuen Peugeot zum Bahnhof im Norden von St. Louis. Der Wagen war ein dunkelgrünes Coupé, und ich glaube, dass er sich darin stolz und männlich fühlte, während Fonnie bei jeder Fahrt vor Angst beinahe ohnmächtig wurde. Ich mochte Roland, und er tat mir leid. Seine Lage ähnelte der meines Vaters. Er gab keinen Mucksvon sich, wenn Fonnie es nicht erlaubte; es war geradezu erbärmlich. Er konnte jedoch auf

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