Madame Hemingway - Roman
mich, Rachmaninow zu spielen, was ich nur zu gern tat. Wiean unserem ersten Abend setzte er sich zu mir auf die Klavierbank, und mich überkam ein starkes Gefühl von Wehmut, während meine Finger über die Tasten flogen. Mitten im Stück stand er jedoch auf und ging auf den Fersen wippend durch den Raum, so nervös wie ein Vollblüter vor dem Rennen. Als ich geendet hatte, verließ er das Zimmer. Ich fand ihn schließlich draußen auf der Treppe, wo er eine Zigarette rauchte.
»War ich so schlecht?«
»Tut mir leid, es liegt nicht an dir.« Er räusperte sich und blickte hinauf in den kalten, sternenklaren Nachthimmel. »Ich wollte dir von einem Mädchen erzählen.«
»O je.« Ich setzte mich auf eine der eisigen Steinstufen und dachte:
Kate hatte recht. Jetzt kommt es.
»Nicht das, was du denkst. Alte Geschichten. Ich habe dir doch erzählt, dass ich in Fossalta verwundet wurde?«
Ich nickte.
»Sie brachten mich zur Genesung nach Mailand, und dort habe ich mich in meine Nachtschwester verliebt. Ist das nicht großartig? Ich und zehntausend andere arme Trottel.«
Es mochte eine alte Geschichte sein, aber von seinem Gesicht konnte ich ablesen, dass es
die
Geschichte für ihn war.
»Sie hieß Agnes. Wir waren kurz davor zu heiraten, als ich zurück in die Staaten verschifft wurde. Wenn ich damals Geld gehabt hätte, wäre ich dort geblieben und hätte sie gebeten, meine Frau zu werden. Sie wollte warten. Frauen sind immer so verdammt vernünftig. Warum ist das so?«
Ich hatte nicht den blassesten Schimmer, was ich erwidern sollte. »Du warst damals erst achtzehn Jahre alt?«
»Achtzehn oder hundert«, sagte er. »Meine Beine waren vollgepumpt mit Metall. Sie haben achtundzwanzig Granatsplitter aus mir herausgezogen. Hunderte weitere saßen zu tief, um an sie heranzukommen, doch nichts von alldem war so schlimm wie der Brief von Agnes, der mich schließlich erreichte. Sie hattesich in einen anderen verliebt, einen schneidigen italienischen Leutnant.« Er verzog das Gesicht zu einem höhnischen Grinsen. »Sie schrieb, sie hoffe, ich könne ihr eines Tages vergeben.«
»Aber du hast ihr nicht vergeben.«
»Nein. Im Grunde nicht.«
Nachdem wir ein paar Minuten schweigend verbracht hatten, sagte ich: »Du solltest dir noch lange Zeit lassen, bevor du heiratest. So ein Schlag ist wie eine hartnäckige Krankheit. Du brauchst Zeit, um dich zu erholen, oder du wirst nie zu hundert Prozent wiederhergestellt.«
»Ist das also Ihre Verordnung, Frau Doktor? Eine Erholungskur?« Er war beim Sprechen immer näher an mich herangerückt und ergriff nun meine Hand. Er strich sanft über meinen wollenen Handschuh und wirkte plötzlich ruhiger. »Ich mag deine Direktheit«, erklärte er nach einer Weile. »Du hörst mir zu und sagst dann einfach, was du denkst.«
»Das tue ich wohl«, erwiderte ich, obwohl ich ganz durcheinander war. Er war offensichtlich hoffnungslos in diese Frau verliebt gewesen und war es höchstwahrscheinlich sogar immer noch. Wie sollte ich gegen einen Geist ankommen, ausgerechnet ich, die ich so wenig und nichts Gutes über die Liebe wusste?
»Glaubst du, dass man seine Vergangenheit je überwinden kann?«, wollte er wissen.
»Ich weiß es nicht. Ich hoffe es.«
»Manchmal habe ich Angst, wenn Agnes verschwände, könnte all das hier ebenfalls verschwinden.«
Ich nickte. Ich kannte diese Angst nur zu gut.
»Vielleicht ist sie aber auch gar nicht verschwunden. Vielleicht hat sie mich überhaupt nie geliebt.« Er zündete sich eine weitere Zigarette an und sog tief daran, so dass die Spitze rot aufleuchtete. »Ist die Liebe nicht eine gottverdammt schöne Lügnerin?«
Sein Tonfall klang so bitter, dass ich ihm kaum in die Augen blicken konnte, doch er sah mich genau und eindringlich an und sagte: »Jetzt habe ich dir Angst eingejagt.«
»Nur ein bisschen.« Ich versuchte, ein Lächeln für ihn zustandezubringen.
»Wir sollten wieder reingehen und bis morgen früh tanzen.«
»Ach, Nesto, ich bin furchtbar müde. Vielleicht sollten wir einfach schlafen gehen.«
»Bitte«, beharrte er. »Ich denke, es würde helfen.«
»Na schön.« Ich reichte ihm meine Hand.
Drinnen hatte sich die Party größtenteils aufgelöst. Ernest rollte langsam den Teppich zur Seite und kurbelte das Victrola an. Nora Bayes’ bebende Stimme erfüllte den Raum:
Make believe you are glad when you’re sorry.
»Das ist mein Lieblingslied! Kannst du etwa hellsehen?«, fragte ich Ernest.
»Nein, ich weiß nur, wie
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