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Madame Hemingway - Roman

Madame Hemingway - Roman

Titel: Madame Hemingway - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paula McLain
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Ich trug nämlich schmale hellbraune Schnürschuhe anstelle von anständigen Wanderstiefeln. Ich weiß nicht, was ich mir dabei gedacht hatte, abgesehen davon, dass meine Beine in den Schnürschuhen einfach besser aussahen. Meine gutaussehenden Beine brachten mich dann jedoch fast um. Wir waren kaum fünf Kilometer gelaufen, als meine Füße schon völlig durchnässt waren. Zu meiner Verteidigung kann ich nur vorbringen, dass wir keinen Schimmer hatten, worauf wir uns einließen. Im Frühjahr war der Pass zwar eigentlich begehbar,doch in diesem Jahr war er noch nicht geöffnet worden. Noch war niemand vor uns diesen Weg gegangen, und an einigen Stellen versanken wir bis zum Oberschenkel im Schnee. Wir stapften dennoch weiter, durch Täler und dicht bewachsene Kiefernwälder und über große, blumenübersäte Wiesen. Die Landschaft war atemberaubend, doch Ernest und ich waren in ziemlich schlechter Verfassung. Meine Füße pochten, und mir taten die Beine weh. Ernest hatte eine Art Höhenkrankheit mit Übelkeit und Kopfschmerzen entwickelt, und je höher wir stiegen, desto schlimmer wurden die Symptome. Ihm war schwindlig, und er musste sich ungefähr alle halbe Stunde übergeben. In gewisser Weise war Chink noch am schlechtesten dran, da er unsere Rucksäcke mittragen musste. Oft schleppte er zwei gleichzeitig mehrere hundert Meter weit und kehrte dann zurück, um den dritten zu holen. Irgendwann begann ich mir vorzustellen, einer der berühmten Bernhardiner würde zu unserer Rettung erscheinen und uns alle auf einem gemütlichen Schlitten den Rest des Berges hinaufziehen. Auf halber Strecke zur Spitze machten wir in Bourg-Saint-Pierre Rast und aßen auf einem sonnenbeschienenen Fleckchen unser Mittagessen. Meine Füße waren so geschwollen, dass ich mich nicht traute, meine Schuhe auszuziehen, da ich befürchtete, sie danach nicht wieder anzubekommen. Ich brauchte dringend ein Schläfchen und rollte mich auf einer Holzbank zusammen, während Ernest und Chink durch den Ort liefen und das hiesige Bier probierten.
    »Du hast einen reizenden kleinen Friedhof verpasst«, sagte Chink, als sie mich später aufweckten.
    »Da stehen reihenweise Grabsteine für all die armen Teufel, die auf diesem Berg ihr Leben gelassen haben«, berichtete Ernest.
    »Auf
diesem
Berg?«, fragte ich bestürzt. »Sind wir tatsächlich in Gefahr?«
    »Willst du lieber aufgeben und hierbleiben?«, fragte Ernest.
    »Und die Mönche verpassen? Wie sollten wir uns das je verzeihen?«, warf Chink ein.
     
    Auf der Passhöhe lag das Hospiz von Sankt Bernhard, wo die Anhänger des Ordens bereits seit mehr als tausend Jahren Reisenden halfen. Wer an ihre Tür klopfte, erhielt Brot und Suppe, einen Becher Wein und ein Strohlager für die Nacht. Spätabends kamen wir dort an, nach dreißig Kilometern Aufstieg und beschwipst vom Cognac, an dem wir alle zwanzig Minuten genippt hatten, um es von Bourg-Saint-Pierre bis nach oben zu schaffen. Die Nacht war klar, und der Mond beleuchtete das Hospiz von hinten, was ein schauriges Bild abgab.
    »Sieht aus wie eine Kaserne, findest du nicht?«, fragte Chink und klopfte an das imposante Holztor.
    »Für dich ist jedes alte Gebäude eine Kaserne«, erwiderte Ernest, bevor sich die Tür weit öffnete und dahinter ein glänzender kahler Schädel zum Vorschein kam.
    Der Mönch stellte keine Fragen und führte uns durch stille, dunkle Korridore geradewegs in unsere Zimmer. Wie angekündigt, waren sie karg gehalten und enthielten lediglich Strohmatten als Betten, doch es gab darin ordentliche Leselampen und ein behagliches Feuer. Chink und Ernest ruhten sich vor dem Abendessen aus, während ich auf Erkundungstour ging, in der Hoffnung, irgendwo eine Schüssel mit warmem Wasser aufzutreiben, in die ich meine geschundenen Füße stecken konnte. Allerdings glich ein Flur dem anderen und ich fand mich nicht zurecht. Ich beschloss, mich an den Stimmen zu orientieren, vernahm jedoch keine. Ich probierte einen langen, düsteren Gang aus, und musste schließlich feststellen, dass sich dort die privaten Gemächer der Mönche befanden. Mehrere Türen öffneten sich gleichzeitig, und ein geschorenerKopf nach dem anderen wurde maulwurfsgleich auf den Flur hinausgestreckt. Ich war entsetzt und kehrte in unser Zimmer zurück, wo ich sogleich von meinem Erlebnis berichtete. Die Jungs lachten natürlich bloß, und Ernest meinte, ich sei wahrscheinlich die erste Frau in tausend Jahren, die diese Flure betreten hatte. Er erwähnte die

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