Madame Lotti
ungestillten Appetit auf Hühnerragout verspüren sollte!» Nun, sie scheint Recht behalten zu haben, den drei Hühnern geht es allem Anschein nach gut, sie haben noch nicht mal ihren Standort gewechselt und sogar für Nachwuchs gesorgt. Vier Küken, grau vor Schmutz.
Im Ambulatorium herrscht Hochbetrieb. Adelaide steht, mit straff zurückgekämmtem Haar, in der Breiküche und referiert darüber, was gut ist für den Nachwuchs und was nicht. Als sie mich sieht, macht sie drei grosse Schritte auf mich zu. Umarmt mich herzlich, lässt mich los und zeigt ein Lachen, das sich bis unter ihre Haarwurzeln zieht. Nachdem sie «Bonne arrivée» gewünscht hat, ist sie allerdings auch schon wieder fort, stürzt händeringend auf eine junge Frau zu, die mit zwei Bündeln im Arm am Tor steht. Adelaide dreht sich nach mir um und gibt mir ein unmissverständliches Zeichen, ihr zu folgen. Was ich besser tue, denn so warmherzig Adelaide auch ist, so burschikos und bestimmt ist sie. Muss sie auch sein, wie sonst hätte sie als Witwe sieben Kinder durchbringen und all die vielen Mütter im Slum so gut über Hygiene aufklären können. Die Bündel stellen sich als winzig kleine, locker in viel Stoff eingebundene Neugeborene heraus, die keine Woche alt sein können. Adelaide drückt mir eines in die Arme und zerrt die junge Frau Richtung Mütterberatungsecke. Dort scheucht sie alle vom Wickeltisch weg, fordert uns auf, die zwei Fliegengewichte abzulegen. Dann redet sie auf Djoula, eine der vielen Landessprachen, die hier gesprochen werden, auf die junge Frau ein und schimpft dabei ganz offensichtlich ununterbrochen.
Die Zwillinge waren in einem Spital zur Welt gekommen, aus dem man die Mutter vierundzwanzig Stunden später nach Hause entliess, wo sie kurz darauf verstarb. Die Verwandten baten Adelaide um Hilfe. Sie brachte Milchpulver und Schoppenflaschen und erklärte, wie man damit umgeht. Sie hat vorgehabt, heute Nachmittag noch einmal vorbeizuschauen, und versteht nun nicht, warum die junge Frau die beiden Winzlinge durch die sengende Sonne ins Ambulatorium getragen hat. Als die dann aber erklärt, die beiden würden den Schoppen nicht akzeptieren, lobt Adelaide sie.
Nun wiegt sie erst den einen, dann den anderen Buben und legt dabei die Stirn in tiefe Falten. Der eine von beiden ist deutlich untergewichtig und ganz offensichtlich auch nicht so aktiv wie sein Bruder, der, so klein und zart wie er ist, sich nach Kräften anstrengt, endlich etwas zu finden, das seinen Hunger stillen könnte. Unablässig macht er mit seinem Mund leise schmatzende Sauggeräusche, dreht seinen Kopf hin und her und rudert mit Ärmchen und Beinchen durch die Luft. Nachdem Adelaide beiden Fieber gemessen hat, packt sie sie wieder in die Tücher, legt mir das aktivere der frisch geschnürten Bündel in die Arme, nimmt das andere und weist die junge Frau an, uns zu ihrer Hütte zurückzuführen.
Nach einer guten Viertelstunde Fussmarsch kommen wir zu einer dieser typischen Behausungen. Neun Bretterverschläge sind um einen rechteckigen Hof angeordnet, in dem ein Sodbrunnen und eine Feuerstelle stehen. In jedem der Bretterverschläge lebt eine Familie mit oft bis zu acht Personen. Und für all diese Menschen steht in einer Ecke eine einzige Latrine. Und weil die niemand putzt, stinkt es. Monsieur Grogba kommt mir in den Sinn, den Lotti mir einmal vorgestellt hat und der in der Notdurft der Menschen eine Marktlücke entdeckte: Latrinenputzer. Wir streifen die Schuhe ab, betreten die Hütte durch einen mit einem Tuch verhängten Eingang, kommen in einen dunklen Raum. Auf einer unbezogenen, fleckigen Schaumstoffmatte liegen zwei ältere Menschen, daneben versucht ein Kind mit einer Plastikschüssel und zwei Schoppenflaschen einen Turm zu bauen. So eng die Behausung ist, so aufgeräumt ist sie. In der einen Ecke die Kochutensilien, in der anderen ein paar wenige Kleider. Auf dem Boden kein Sandkorn. Die Hitze staut sich wie in einem Backofen. Kein Luftzug. Ich spüre, wie mir der Schweiss ausbricht, gehe raus, setze mich an die Bretterwand und warte dort, bis Adelaide mit zwei frisch präparierten Schoppenflaschen herauskommt und mir eine davon überreicht. Mit kleinen, kräftigen Zügen saugt «mein» Zwerg die Milch, verschränkt dabei seine Händchen, legt die Füsschen übereinander. Dass das, was oben reingeht, kurz darauf die Tücher nässt, stört ihn genauso wenig wie mich. Im Moment gibt es nur eines: weitermachen, bis kein Tropfen mehr übrig ist.
Weitere Kostenlose Bücher