Madame Lotti
Leider will genau dies seinem schwächeren Bruder, der in den Armen seiner Tante liegt, nicht recht gelingen. Aber Adelaide gibt nicht auf, ermuntert beide weiterzumachen, erklärt, instruiert, lobt, drängt, und schliesslich ist immerhin die Hälfte der Flasche leer. Bevor wir losgehen, erklärt Adelaide abermals, wie und wann die nächste Mahlzeit verabreicht werden soll, dass die Schoppenflaschen, auch wenn sie nicht leer geworden sind, ausgewaschen und ausgekocht werden müssen und dass für die Zubereitung des Milchpulvers sauberes Wasser verwendet werden muss. Sie verspricht, morgen wieder zu kommen.
Auf unserem Weg zurück schaut Adelaide bei zwei weiteren Familien zum Rechten. Das heisst, es sind keine Familien, sondern zwei junge Mütter, die von den Vätern ihrer Kinder verlassen worden sind und die positiv sind. Adelaide hatte den beiden erklärt, dass jedes Neugeborene einer aidspositiven Mutter HIV-Antikörper von ihr hat und der Test deshalb positiv ausfällt. Diese passiv übertragenen Antikörper werden in wenigen Monaten abgebaut. Nur wenn auch HI-Viren übertragen worden sind und sich im Kind vermehren, wird dieses selber Antikörper bilden, welche dann langfristig bestehen bleiben und die Infektion widerspiegeln. Wichtig ist, dass die Mutter das Kind nicht stillt, da Aids über die Muttermilch übertragen werden kann. Die beiden Frauen haben auf das Stillen verzichtet. Damit geben sie den Kindern eine Chance, gesund zu werden, gleichzeitig gehen sie aber auch das Risiko ein, von der Gemeinschaft verstossen zu werden. Es hat sich längst herumgesprochen, was mit Frauen los ist, die ihren Kindern nicht die Brust, sondern die Flasche geben.
Als wir gehen, meint Adelaide: «Angela, die ältere der beiden Mütter, wird am Mittwoch kommen, um ihr achtzehn Monate altes Kind bei uns testen zu lassen.»
Dann erzählt sie, wie es ihrem Sohn Rodolphe geht. Der Achtzehnjährige war letzten Juni von einem Auto angefahren worden, dessen Lenker – wie hier üblich – Fahrerflucht beging. Dank Lottis Hilfe konnte er ins Spital eingeliefert werden und bekam dort den ganzen Oberkörper eingegipst. Hätte Lotti die finanziellen Mittel nicht aufgebracht, wäre der Junge nicht behandelt worden. Wer bei seiner Einlieferung kein Geld hat, wird schlichtweg nicht behandelt. Auch dann nicht, wenn er unter den Augen der Ärzte stirbt.
Bevor wir im Ambulatorium ankommen, lade ich Adelaide zu einem «Geschäftsessen» auf dem Nachtmarkt ein. Und zwar, wie mit Lotti abgemacht, übermorgen. Lotti und ich haben lange hin und her überlegt, welcher Abend für alle der beste sei. Dass weder Monsieur Konaté noch Arlette dabei sein werden, da Ersterer Nachtwache hat und Letztere die Kinder hüten muss, macht mich jetzt schon traurig.
Adelaide macht grosse Augen: «Ein Geschäftsessen? Auf dem Nachtmarkt? Wir? Warum?» Dabei lächelt sie hochzufrieden und so, als wüsste sie die Antwort schon.
«Weil ich euch alle sehr mag und weil ich euch Danke sagen möchte, für das, was ihr leistet.»
Kurz bevor wir beim Ambulatorium ankommen, meint sie noch: «Vielleicht haben wir dann ja auch etwas zu feiern.»
Ich weiss, was sie damit meint, das Testresultat von Angelas Kind.
Lotti sitzt in ihrem Sprechzimmer. Vor ihr eine Frau, deren Mann vor ein paar Wochen gestorben ist und dessen Bruder, bei dem sie nun wohnt, sie krankenhausreif geschlagen hat.
Lotti dreht sich zu mir um: «Es sind die Frauen, die leiden. Immer wieder sind es die Frauen.»
Die Witwe, die kam, um Lotti ihre Misere zu erzählen, hat eine drei Monate alte Tochter und einen drei Jahre alten Sohn. Und sie hat Mumm. Auf eine entsprechende Frage Lottis erzählt sie, dass sie ihren Schwager angezeigt habe. Seither sei er auf der Flucht.
«Bloss», erzählt sie weiter, «sollte er eines Tages zurückkommen, wird er über die Anzeige dermassen wütend sein, dass …»
Lotti fragt, ob sie jemanden kennt, bei dem sie wohnen könnte. Aber sie will nicht mehr bei jemandem wohnen, sie will zurück in ihr Heimatland. Zurück nach Ghana. Der Bus fährt von Treicheville aus, einem Quartier Abidjans, das hat sie abgeklärt. Die Reise, auch das weiss sie, dauert zwei Tage. Sie ist hier, weil sie sich von Lotti die Reisespesen erhofft. Lotti stellt in Aussicht, ihr diese zu geben, drängt aber darauf, dass sie sich die Sache wirklich gut überlegt, denn falls sie das Geld anderweitig brauche, bekomme sie von ihr nie eine zweite Chance, doch noch in ihre Heimat zurückzukehren.
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