Madame Lotti
Gefrierelemente in die Isoliertasche. Zum Glück, denn als Hichem mich abholt und aus dem klimatisierten Airport heraus zum Auto führt, empfangen mich zweiundvierzig Grad. Wenigstens ist es, ganz anders als in Abidjan, eine sehr trockene Hitze.
Hichem, ein sympathischer Mann um die vierzig, spricht nicht viel. Ob dies daher kommt, dass Chauffeure mit ihren Passagieren grundsätzlich nicht sprechen sollten, oder ob sein Englisch nicht ausreicht, finde ich so schnell nicht heraus. Er lässt mich im roten Jeep Cherokee auf der Rückbank sitzen. Auf unserer Reise nach Maadi, einem der Nobelquartiere in Kairo, wo Aziz und Sarah wohnen, finde ich den Grund für seine Wortkargheit: Kairoer Verkehr! Das Gewühl auf den Strassen ist so unvorstellbar chaotisch, dass, wer nicht zerbeult daraus hervorgehen will, extrem aufmerksam sein muss. Ab und zu weist Hichem auf Sehenswürdigkeiten wie Moscheen, Regierungsgebäude und auf die Präsidententribüne hin, die sich an einer sehr breiten Strasse befindet. Im Geist sehe ich defilierende Soldaten, die im Gleichschritt über den Asphalt marschieren. Manchmal schaue ich auch ohne Hichems Hinweis nach links und rechts, erkenne, wie zerfallen und grauschwarz die Hochhäuser sind. Aber meist gibt es für mich nur eine Blickrichtung: geradeaus. In ständiger Erwartung einer wüsten Massenkarambolage werden meine Stirnfalten tiefer und tiefer. Doch die Millimeter, die uns rechts und links und vorne und hinten von den anderen Autos trennen, reichen immer «tout juste», um ohne Kratzer davonzukommen.
Während Autofahren in Abidjan eine Herausforderung ist, die man noch annehmen kann, ist Autofahren in Kairo eine, der sich ein Normalsterblicher aus Europa nie und nimmer stellen sollte. Vorschriften gibt es keine! Auf einer zweispurigen Strasse fahren die Autos dreispurig. Und wenn die dritte Spur ins Stocken gerät, wird flugs eine vierte hervorgezaubert. Selbstverständlich auch dort, wo es die Breite der Strasse eigentlich gar nicht zulässt. Überholt wird ständig, und zwar links genauso wie rechts. Mit Aufblenden der Scheinwerfer und ab und zu auch mit der Hupe verschafft man sich selbst dort noch Platz, wo es gar keinen mehr gibt. Die meist arg ramponierten Autos quetschen sich in jede noch so kleine Lücke, die sich im dichten Verkehrsgedränge der Sechzehn-Millionen-Metropole für Bruchteile einer Sekunde auftut. Ampeln, die auf Rot stehen, werden kolonnenweise überfahren, gerade so, als stünden sie auf Grün. Aus Auspuffrohren kommt Rauch, so dicht und schwarz, als würde Gummi verbrannt. Und genau so stinkt es auch. Fussgänger spielen beim Überqueren der Fahrbahnen russisches Roulette. Fussgängerstreifen scheinen selbst an den wenigen Orten, wo es sie gibt, nicht existent zu sein. Ein Blick auf Hichems Stirn zeigt mir, dass ich nicht die Einzige bin, die trotz der Klimaanlage Blut und Wasser schwitzt.
Nach gut einer Stunde werden die Strassen schmaler, gibt es plötzlich blühende Gärten und – hinter dicken Mauern – Villen.
«Maadi», sagt Hichem, «wir sind angekommen.»
Die Familie Latrous wohnt nicht in einer der Villen, sondern in einem Wohnblock. Im Eingang sitzt ein Wächter. Hichem öffnet mir die Tür, überreicht mir den Schlüssel und sagt, er warte draussen auf mich. In gut einer halben Stunde werde er mich dann zu Sarahs Schule fahren. Als ich die Tür hinter ihm ins Schloss fallen lasse, atme ich erst mal durch. Auf dem Boden liegt ein Blatt Papier, darauf ein Pfeil und die Worte: «Your room». Dein Zimmer.
Das Zimmer gehört, da besteht kein Zweifel, Selim. An der Wand hängt ein Bob-Marley-Poster, auf dem Bücherregal steht eine leere Flasche «Flag». Ich bin also nicht die Einzige, die das Bier, das auf dem Nachtmarkt in Adjouffou serviert wird, besonders gut findet. An der Tür hängt ein Schwarzweissfoto einer bildhübschen Indianerin. Darunter wird Häuptling Seattle, ein Cree-Indianer, zitiert, daneben steht die Jahreszahl 1851. Ich lese:
Erst wenn der letzte Baum gefällt,
erst wenn der letzte Fluss vergiftet,
erst wenn der letzte Fisch gefangen ist,
erst dann werdet ihr herausfinden, dass man Geld nicht essen kann
.
Ich packe die mitgebrachten Würste aus, staune, wie gross Wohn- und Esszimmer sind, finde die Küche und im Kühlschrank leer geräumten Platz. An der Tür hängt ein Zettel mit Lottis Handschrift. Ein Menüplan für fünf Tage und die Anweisung, wie die von ihr selbst gemachten und dann tiefgefrorenen Spätzli aufgetaut und
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