Madame Lotti
und frage, warum hier jeder bei Rot über die Kreuzung fahre. Die Antwort kommt so, als würde mir die Gnade fehlen, Elementarstes zu verstehen: «Wieso sollen wir auf die Ampeln achten, es stehen doch Polizisten dort?»
Wie bitte?
«Aziz! Wenn ich in der Schweiz einen Polizisten bei einer Ampel sehe, dann achte ich doppelt darauf, ob diese schon auf Orange steht. Wenn ich ganz ehrlich bin, bin ich sogar so autoritätsgläubig, dass ich, sobald auch nur der Hauch eines Polizisten vorhanden ist, am liebsten auch bei Grün anhalten würde, um ja keinen Strafzettel einzufahren!»
Aziz lacht und überholt einen gefährlich voll beladenen Lastwagen. Rechts! Selbstverständlich! Nach erfolgtem Überholmanöver meint er trocken: «In Kairo stehen neben jeder Ampel zwei Polizisten und die regeln den Verkehr. Auf Ampeln achtet hier niemand.»
Regeln den Verkehr? Ich sehe sie nur dastehen, Hände in den Hosentaschen und über der Brust eine orange leuchtende Sicherheitsweste.
Aziz erklärt weiter: «Einer von beiden steht ab und zu in der Mitte der Strasse und tut seine Arbeit, der andere hält Block und Bleistift bereit, damit er die Nummernschilder der Autos aufschreiben kann, die nicht anhalten, wenn sein Kollege den Verkehr stoppt.»
Mit dem Bussgeld, werde ich weiter aufgeklärt, wird der Lohn der Verkehrspolizisten bezahlt. Einkassiert wird erst, wenn der Führerausweis verlängert werden muss, was in Kairo alle Jahre wieder der Fall ist.
«Strafzettel bekommt man übrigens auch aus Stadtteilen, durch die man nie im Leben fahren würde, oder solche, die mit einem Datum versehen sind, an dem der Wagen zur Generalüberholung in der Garage war!»
Kairo!
Beim Chinesen angekommen, wird schnell klar, dass dies ein Stammlokal von Sarah und Aziz ist. Die beiden werden herzlich willkommen geheissen und an einen Ecktisch gebeten. Ich bestelle wie sie Frühlingsrollen und Poulet an Zitrone. Zum Trinken teilen Aziz und ich ein Bier. Sarah erzählt von ihrer baldigen Reise nach Tunesien zu ihren zahlreichen Verwandten und dass sie danach noch in die Schweiz zur Schwester und zum Bruder wolle, um die langen Sommerferien dort zu beenden.
«Sonia und Selim», sagt sie, «werden diesmal viel Zeit für mich haben, denn die beiden haben die Zwischenprüfungen an der Hotelfachschule bestanden!»
In ihrer Stimme schwingt Stolz. Sonia, werde ich später von Aziz erfahren, hat sich, als klar war, dass Lotti mehrheitlich in Abidjan leben würde, rührend um ihre kleine Schwester gekümmert.
Wieder zu Hause, gehen wir bald schlafen, weil Aziz am Morgen früh in «seine» Fabrik geht. Er hat mich eingeladen, ihn zu begleiten. Aziz verlässt das Haus um halb sieben, gibt Amel, der Haushalthilfe, die Türklinke in die Hand. Amel, eine junge Ägypterin, die – wie Hichem – schon seit fünf Jahren für die Familie Latrous arbeitet und kein Wort Englisch spricht, wird Sarah wecken, ihr das Frühstück machen und sich, wenn Sarah zur Schule gegangen ist, um Haushalt und Hunde kümmern.
Ich lasse mich auf dem Rücksitz neben Aziz nieder und bitte ihn, so zu tun, als wäre ich nicht da, er solle ruhig die Zeitungen lesen, die Hichem ihm mitgebracht hat. Aziz blättert eine durch und übersetzt mir das Wichtigste. Er liest Arabisch. Als Tunesier spricht er Arabisch, sogar vier verschiedene Idiome, daneben spricht er perfekt Französisch, ein sehr gutes Englisch und ein kleines bisschen Schweizerdeutsch. Er blättert die Zeitung von hinten nach vorne durch und liest von rechts nach links. Er sagt, er wolle über das, was sich im Land tut, aus erster Hand informiert sein, und die erste Landessprache hier sei eben Arabisch. Die zweite ist Englisch, was daher rührt, dass Ägypten zwischen 1882 und 1922 unter britischem Protektorat stand. Während ich Aziz beim Lesen beobachte und dabei immer wieder die für mich absolut nicht entzifferbaren Schriftzeichen bestaune, wird mir wieder einmal bewusst, was unsere Kinder leisten, wenn sie Schreiben und Lesen lernen, und wie schön es ist, wenn Kindern die Möglichkeit gegeben wird, das absolut Unverständliche langsam, aber sicher zu verstehen.
Aziz widmet den News zehn Minuten, dann, als in der Ferne imposant und riesig die drei Gisa-Pyramiden erscheinen, legt er die Zeitungen weg und wird zum Fremdenführer.
«Cheops, Chephren und – die kleinste – Mykerinos, alle um die 4500 Jahre alt, noch heute weiss man nicht genau, wie sie geschaffen wurden. Es gibt mehrere Szenarien, die nach wie vor
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