Madame Lotti
redet mit allen Produktionsverantwortlichen und führt mich dann von der hell beleuchteten, warmen, relativ lauten Fabrikationshalle in eine halbdunkle, minus fünfundzwanzig Grad kalte, immens grosse und gespenstisch ruhige Eishöhle. Als sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt haben, erkenne ich vermummte Gestalten, die ihre Hände mit Handschuhen und ihren Kopf mit einer Kapuze schützen. Die Kälte fällt wie ein weissgrauer durchsichtiger Schleier von der turmhohen Decke auf den Boden. Ein Blick nach oben offenbart, dass das Dach eine kristallene Eisskulptur ist. Auf hohen, mit Frost überzogenen Regalen warten voll gepackte Kartonschachteln darauf, dass die Qualitätskontrolle ihren Inhalt freigibt, um dann in Kühlwagen verladen und ins ganze Land verfrachtet zu werden. Die Männer, die die Kartonschachteln katalogisieren, verschieben, stapeln und beschriften, bewegen sich langsam und bedächtig. Acht Stunden pro Schicht verbringen sie in diesen eisigen Temperaturen, schrecklich! Doch Aziz erklärt, in einem heissen Land wie Ägypten sei nicht die Kälte schrecklich, sondern die Hitze, und führt mich hinaus.
Wir gehen über einen Platz in eine weitere Produktionshalle. War es draussen noch unangenehm warm, ist es in diesem Raum fast unerträglich heiss. In zig Backöfen wird die in riesigen Wannen hergestellte Biscuitmasse zu Waffeln gebacken, die – kaum aus dem Ofen gekommen – maschinell zu Cornets gerollt werden. In einem hinteren Raum wird über offenem Feuer Zucker in Butter caramelisiert und mit gerösteten Nüssen zu Krokant vermischt. Darüber flimmert die Luft. Es riecht – immerhin das – köstlich.
Nun führt mich Aziz noch durch die Kantine, die fabrikeigene Arztpraxis, die Werkstatt, das Labor, in welchem die mikroskopische Qualitätskontrolle durchgeführt wird, und bittet mich schliesslich in ein kleines Zimmer, in welchem fünf Männer die in den letzten vierundzwanzig Stunden produzierte Ware auf Geschmacksnuancen hin testen. Aziz gesellt sich dazu, kostet von Mangoeis über Vanillecornets, Schokoladeneistorten, frisch gebranntem Krokant bis hin zu Wassereis und ist mit allem sehr zufrieden.
In der halben Stunde, die noch bleibt, stellt mir Aziz eine Frau vor, die früher in der Hitze der Biscuithalle arbeitete, bis er in einem Gespräch mit ihr herausfand, dass sie Kältetechnologie studiert hatte. Seither steht sie nicht mehr am Fliessband, sondern als Technikerin dort, wo die Kälte produziert wird. Und zwar als erste Frau. Abdelaziz, das wird schnell klar, ist nicht nur auf diese Vorkämpferin stolz, sondern mindestens ebenso auf ihre Kollegen, die vor drei Monaten mit einem ungläubigen Staunen auf seine Frage reagierten, ob sie sich vorstellen könnten, mit einer Frau zusammenzuarbeiten.
«Eine Frau? In der Technik?»
Sie baten ihren Chef um Bedenkzeit und meinten schliesslich: «Sie ist willkommen!»
Ägypterinnen, erklärt Aziz, würden langsam, aber sicher neues Terrain erobern. Klar ist, dass sie nicht in der minus fünfundzwanzig Grad kalten Höhle arbeiten dürfen und auch nicht in der Nacht. Und damit, meint Aziz, sei er sehr einverstanden, denn: «Der Grossteil unserer Mitarbeiterinnen ist verheiratet und hat Kinder, die tagsüber von den Grossmüttern betreut werden. Es wäre aus den verschiedensten Gründen nicht gut, sie würden nachts arbeiten. Für uns wäre es allerdings ein Vorteil.»
Aziz wartet einen Moment, damit ich «Warum?» fragen kann, und fährt gleich weiter: «Weil Frauen einfach besser arbeiten! Sie sind flinker, interessierter, engagierter, geschickter. Und das sage ich jetzt nicht, um dir zu gefallen, sondern weil es erwiesen ist. In den beiden Schichten während des Tages und vor allem in der Morgenschicht, wo vermehrt Frauen arbeiten, weisen wir eine fünf bis zehn Prozent höhere Leistung aus als während der Nacht! Rechne das mal hoch!»
Aziz lacht übers ganze Gesicht und verabschiedet mich, nachdem wir uns unserer Kittel und Hauben entledigt haben: «Bis heute Abend, und vergiss nicht, dich im Auto zu entspannen!»
Hichem wartet schon, fährt mich zu den Pyramiden. Die Hitze bugsiert mich allerdings ziemlich schnell wieder in den klimatisierten Wagen zurück. Dann gehts nach Maadi zu einem vorgezogenen Mittagsschlaf, der mich schon fast im Auto überwältigen will. Kaum zu glauben, wie schnell ich mich an Hichems Fahrstil gewöhnt habe. Als sich neben uns unter lautem Getöse zwei Autos ineinander verkeilen, bin ich allerdings wieder
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