Madame Lotti
für heftige Diskussionen und rote Köpfe bei den Wissenschaftlern sorgen.»
Er werde Hichem fragen, ob er auf der Rückfahrt beim ersten der sieben Weltwunder vorbeifahre, dann könne ich aussteigen und bei einem kurzen Augenschein selbst entscheiden, ob ich am Wochenende eine Tour dorthin machen wolle oder nicht. Wobei er sagen müsse, dass die Zeit dazu – bei unserem Programm – eigentlich fehle und Sarah Besuche bei den Pyramiden ohnehin satt habe.
«Aber das besprechen wir später, jetzt werde ich dir erst mal die Fabrik zeigen, und um neun Uhr, wenn ich die erste Sitzung habe, wird Hichem dich nach Maadi zurückbringen.»
Die nächsten zwanzig Minuten fahren wir an imposanten Neubausiedlungen vorbei, die – dank der Kanalisierung des Nils – schön begrünt sind, die aber, und das wird erst bei längerem Hinschauen klar, alle leer stehen. Unbewohnte Satellitenstädte. Für die ägyptische Bevölkerung massiv zu teuer, steht ein dicht bebauter und riesiger Landstrich einfach leer. Zwanzig Minuten lang Niemandsland. Aziz erklärt, die Bauherrschaft komme vor allem aus Saudi-Arabien. Scheichs, die damit rechnen, dass ihre Ölquellen irgendwann versiegen, und die ihren Nachkommen mit diesen Geisterstädten ein späteres Auskommen sichern wollen. Dort, wo der Nil nicht für Wachstum sorgt, ist alles so braungrau wie die Pyramiden. Wüstenland.
Dann kommt wieder Leben in die Gegend, wir nähern uns dem «6 th of october industrial estate», dem Industriegebiet des sechsten Oktobers. Hier befindet sich auch die Nestlé-Fabrik, die, wie Aziz erklärt, den Namen «6 th of october factory» trägt. Der sechste Oktober, erläutert Aziz, sei für Ägypten ein Nationalfeiertag und habe mit einem Ereignis zu tun, auf welches das ganze Land stolz sei: «Am 6. Oktober 1973, es war der Tag des jüdischen Jom-Kippur-Festes, griff Ägypten die am Suezkanal stehenden israelischen Truppen an. Die Offensive blieb nach einer Woche zwar stecken, hatte jedoch zur Folge, dass der amerikanische Aussenminister Henry Kissinger einen Waffenstillstand zwischen Ägypten und Israel durchbrachte. Dieser führte sechs Jahre später zu einem ägyptisch-israelischen Friedensvertrag, bei welchem Ägypten die 1967 im Sechstagekrieg an Israel verlorene Sinai-Halbinsel zurückerhielt und damit auch den wirtschaftlich so wichtigen Suezkanal.»
Fünf Minuten später, nach einer gut einstündigen Fahrt, kommen wir bei Nestlé an, zeitgleich mit der ersten Schicht Arbeiter, die in Firmenbussen zur Arbeit gebracht werden. Für die rund neunundsechzig Millionen Einwohner Ägyptens produzieren die Mitarbeiter über dreissig Millionen Liter Speiseeis pro Jahr. Dies an sechs Arbeitstagen pro Woche und in drei Schichten. Verantwortlich für den reibungslosen Ablauf und die Qualität zeichnet Direktor Latrous, dessen Name in goldener Schrift auf einem blauen Schild seinen Schreibtisch ziert: «Abdelaziz Latrous». Abdelaziz?
«Ja, mein voller Name ist Abdelaziz und meint übersetzt etwa so viel wie der ‹von Gott Geliebte›, Aziz ist die Kurzform.»
Nachdem der Chef seine Mitarbeiter begrüsst hat, schaut er schnell in seine Mailbox, macht uns einen Kaffee und empfängt seine Sekretärin, die mit einem Klemmbrett unter dem Arm in sein Büro tritt, mit den Worten: «Guten Morgen, Mrs. Khirat, alles okay?»
Worauf sie antwortet: «Nein, es ist viel zu heiss in Ihrem Büro. Wie immer! Wieso schaffen Sie es nicht, die Klimaanlage richtig einzustellen, Mister Latrous?»
In ihrer Stimme schwingt leichte Ungeduld mit. Mit stechendem Schritt geht sie nun zur Anlage und stellt den Schalter mit einem entschiedenen «So» auf volle Kraft voraus. Es wird augenblicklich Winter. Bevor sie wieder zur Tür rausgeht, sagt sie noch, sie sei eigentlich nur gekommen, um den Sitzungstermin um neun zu bestätigen. Aziz nickt, steht auf, stellt den Schalter mit den Worten: «Dieses Spiel spielen wir jeden Tag» wieder auf die Ausgangsposition zurück, geht dann zu einem Schrank, nimmt einen weissen Kittel heraus, zieht ihn an, gibt mir auch einen. Jetzt kommt noch je eine weisse Haube auf den Kopf, und ab ins Produktionszentrum.
Fliessbänder. Stampfende Maschinen. Dröhnende Pressluft. Flinke, unglaublich flinke Hände, die einfüllen, auffüllen, sortieren, einpacken. Aziz macht seinen Kontrollgang, begrüsst die Arbeiterinnen und Arbeiter, nimmt Stichproben, um die Qualität der Verpackungen zu überprüfen, hat hier etwas auszusetzen und da etwas zu loben. Er
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