Madame Lotti
empfangen zu müssen, macht sie ebenso unglücklich wie uns. Jeden Tag gibt es Männer, die ihr letztes Geld in eine Taxifahrt zum Hafen investieren, um sich dort in die Schlange der Arbeitsuchenden einzureihen. Stundenlang warten sie dort, bis sie vielleicht eine Arbeit bekommen. Und wenn nicht, marschieren sie am Abend zu Fuss nach Hause, weil sie den Transport zurück nicht mehr bezahlen, geschweige denn ihrer Familie etwas zu essen besorgen können.
Nachdem wir Pierre mit dem neuen Büromaterial sich selbst überlassen haben, lerne ich im Sterbespital Émilie kennen. Émilie ist eine gross gewachsene Frau, deren Haut sich wie eine lose Hülle um ihre filigranen Knochen legt, die man einzeln zählen kann. Ihre Hände sind mit Tüchern an die Bettstatt gebunden. Lotti löst sie, spricht dabei leise mit ihr, fragt, wie es ihr heute gehe. Émilie sagt nichts, schaut Lotti einfach geradewegs in die Augen. Ihr Blick – so scheint es – sucht Leere und ist überrascht, dass er erwidert wird. Émilie, eine Frau aus gutem Hause, war lange Zeit Patientin in einem Privatspital. Sie liegt nicht hier, weil die Familie dieses nicht mehr hätte zahlen können, sondern weil man Émilie als «unmögliche» Patientin taxiert und sich nicht mehr um sie gekümmert hat. Ein Teufelskreis. Je weniger Beachtung sie fand, desto ausfälliger und aggressiver wurde sie. Sie bespuckte jeden, der sich ihr näherte, und ohne Fesselung zog sie sich die Windeln aus und verdreckte, was sie verdrecken konnte. Auch sich. Für Lotti war Émilie eine Herausforderung. Sie entschied, die Frau aufzunehmen.
«Nicht um die Familie oder das Pflegepersonal im Privatspital zu entlasten. Sondern einzig und allein, um Émilie die Menschenwürde zurückzugeben.»
Als Émilie ins Sterbespital eingeliefert wurde, bespuckte sie auch hier alle, die sich ihr näherten, liess sich von niemandem anfassen und stiess wüste Beschimpfungen aus, die die ganze Welt verdammten. Es ging genau zehn Minuten, dann waren Émilies Hände wie vorher im Privatspital an die Bettstatt gebunden. Lotti kam erst Stunden später, ging – trotz der Warnungen des Personals – auf sie zu, sagte: «Bonsoir, Émilie, ich heisse Lotti.»
Und erhielt die Antwort mitten ins Gesicht gespuckt. Als Lotti nicht rechtsumkehrt machte, sondern ihre Hände auf Émilies Arme legte, redete sie zum ersten Mal: «Nimm deine dreckigen weissen Pfoten von mir!»
Lotti musste innerlich lächeln: «Émilie hat mich entlarvt, ich bin eine, die Menschen unglaublich gern und manchmal auch viel zu schnell berührt.»
Sie nahm ihre Hände von Émilie, sagte, sie würde morgen wieder kommen, was mit Zetermordio beantwortet wurde, verabschiedete sich und empfahl Monsieur Konaté, der Nachtwache, Émilie ein Schlafmittel zu geben, falls sie die ganze Nacht so weiterschreien sollte.
Lottis erster Besuch am nächsten Morgen galt Émilie, nachdem sie die Kleinen aufgeweckt hatte, um ihnen die Aidsmedikamente zu geben.
«Diesmal hielt ich mich zurück, berührte sie nicht mit den Händen, sondern nur mit den Augen. Berührte nicht ihren Körper, sondern ihre Seele.»
Mit ihrem Blick hat sie Émilie ohne Worte mitgeteilt, dass sie sie nicht als Ungeheuer taxieren würde, sondern als Menschen, der seine Würde hat und Respekt verdient. Auch dann noch, wenn sein Körper voll von eiternden Wunden ist, die das Fleisch langsam verfaulen lassen, und sein Gehirn durch eine Toxoplasmose, eine häufige Begleiterscheinung von Aids, angegriffen ist.
Émilie spuckte Lotti von Stund an nicht mehr an, was sie allerdings nicht daran hinderte, Pflege- und Putzpersonal weiterhin zu markieren. Lotti betraute daraufhin Véronique, eine ihrer ältesten Mitarbeiterinnen, mit der schwierigen Aufgabe, Émilie zu pflegen.
Véronique ist eine Schwesternhilfe, die mir verdeutlicht, dass man das Wort Güte verkörpern kann. Das liegt an ihrem Lachen ebenso wie an ihren Augen, es umspielt ihren Mund, manifestiert sich in ihrer Körperhaltung. Véronique versicherte und versichert Émilie hundertmal am Tag, wie wichtig sie für die Menschen hier ist, wie lieb man sie hat, wie froh man ist, sie dazuhaben.
«Émilie», meint Lotti, «ist noch nicht so weit, dass man ihre Hände losbinden könnte, aber bespuckt hat sie schon tagelang niemanden mehr.»
Ich ertappe mich dabei, dass ich bei diesen Worten ein wenig nach hinten weiche, weil ich Émilie, die mich eingehend und mit gelinde gesagt ernstem Gesicht mustert, durchaus zumute, dass sie
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