Madame Lotti
Bevor sie ins Zimmer geht, bemerke ich: «Du liebst ihn sehr, nicht wahr?» «Darf ich dir die Antwort darauf vorlesen?» Und statt sich hinzulegen, setzt sie sich in ihrem Zimmer rittlings auf den einzigen Stuhl, kramt in ihren Notizen und liest:
Ich möchte die Ameise sein, die deine Fusssohle kitzelt. Ich möchte die Blume sein, die deine Hand pflückt. Ich habe das Verlangen, der Stein zu sein, den du ins Wasser wirfst. Ich beneide das, was deine Augen sehen, die Düfte, die von deiner Nase eingeatmet werden, die Töne, die dein Ohr hört, den Geschmack, den dein Mund kostet. Ich habe ein riesiges Verlangen nach dir, brauche dich, du fehlst mir sehr
.
Wenn nur nicht dieses Gefühl des Zerrissenseins wäre, dieses Leiden, das mein Bauch und mein Herz voneinander trennt. Alle körperlichen Leiden werden nie so schmerzen wie mein Schmerz um dich. Es fällt mir unendlich schwer, dich bei jedem Abschied aufs Neue zu verlieren. Fussspuren im Sand werden durch eine kleine Welle einfach so ausradiert. Du aber hinterlässt Spuren in meiner Seele, die sich nie mehr auswischen lassen
.
Nachdem sie die letzte Zeile gelesen hat, nimmt sie ihre Lesebrille von der Nase und lächelt mich an.
«Wann hast du das geschrieben, Lotti?»
«Vor fünf Jahren, vor drei. Vielleicht auch gestern. Egal. Ganz egal. Oder? Komm, wir gehen einkaufen.»
«Keine Siesta?»
«Nein, die Müdigkeit ist weg, ich fühle mich wie ein frisch verliebter Teenager, und mit dieser Energie kann ich endlich tun, was schon längst hätte getan werden müssen. Büromaterial einkaufen. Für Pierre.»
Pierre lerne ich am Nachmittag kennen. Ein grosser Mann, mit einem breiten Gesicht und weit auseinander stehenden Augen. Pierre ist vierzig, sieht aber aus wie dreissig. Pierre ist seit neuestem Lottis Sekretär, der sich um die Buchhaltung und das Schreiben von Briefen an offizielle Stellen kümmert. Als Gegenleistung bekommt er nicht Geld, sondern sein Leben. Lotti bezahlt ihm die Tri-Medikation, die Behandlung gegen Aids. Der von der Schweizer Botschaft gespendete Computer, an dem er arbeitet, steht in meinem Zimmer, was mich die folgenden Tage von Siestas abhalten wird, denn Pierre hat alle Hände voll zu tun. Als wir ihm das Büromaterial bringen, stellt Lotti ihn mir vor. Pierre erinnert mich an einen Freund, den ich vor bald fünfzehn Jahren an Aids verloren habe. Seine Homosexualität hatte ihn das Leben gekostet. Homosexuelle waren in Europa damals die Risikogruppe schlechthin.
«In Schwarzafrika», referiert Lotti, «sind es die Fünfzehn- bis Neunundvierzigjährigen, also diejenigen im produktiven Alter, die den Grossteil der Infizierten ausmachen. Die einzige Waffe, die wir haben, ist eine gute Prävention. Den Mädchen hämmere ich ein, dass sie das letzte Wort haben, bei der Frage, ob mit oder ohne Präservativ. Weisst du, mit welcher Begründung die Männer hier Kondome verweigern?»
Lotti lächelt, Pierre nickt, ich verneine. Dann sagen die beiden im Duett: «Man geniesst ein Bonbon ja auch nicht in der Verpackung!»
«Lotti hat mir», fährt Pierre nun alleine weiter, «das Leben gerettet, das heisst, nein, es war anders. Sie hat mich aus dem Sarg gezerrt.»
Lotti erzählt mir später, er habe eine Freundin, die negativ sei, und er träume davon, eines Tages einen kleinen Lebensmittelladen zu eröffnen. Das würde ihn sechs Millionen afrikanische Francs kosten. Eine Million CFA sind zweitausendfünfhundert Franken. Sechs Millionen, das sind fünfzehntausend Franken. Fünfzehntausend Franken, das ist hier nicht ein Vermögen, das ist eine astronomische Summe, eine unüberwindbare Hürde.
Eine andere Geschäftsidee hat «Général de Gaulle». Ein Patient, dessen Zustand sich in den letzten Monaten stabilisiert hat und der immer wieder mal im Sterbespital vorbeischaut, um mit Lotti einen Schwatz zu halten. Warum er sich ausgerechnet den Namen von Charles de Gaulle gab, wollte er mir partout nicht verraten. Als ich ihn bei meinem zweiten Besuch hier traf, fragte er, ob ich ihm das nächste Mal Küken mitbringen könne.
«Küken? Wozu den Küken, Général?»
«Blöde Frage! Ist doch logisch, ich möchte eine Hühnerfarm eröffnen! Das Nichtstun hängt mir langsam zum Hals heraus, und bevor mich Aids eines Tages ganz in die Knie zwingt, will ich mir meinen Traum erfüllen. Aber ich brauche gesunde, voll gefressene kleine Küken. Goldgelbe! Am liebsten aus der Schweiz.»
Die Menschen betteln hier nicht um Geld, sie möchten Arbeit. Almosen
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