Madame Lotti
Kairo rumhockt, nächtelang weint und tagelang am Telefon sitzt, als Mutter viel weniger existent ist, als wenn sie in Adjouffou glücklich ist und uns ab und zu besucht. Sarah und Sonia, die in Kairo waren und erlebt hatten, wie sich die Situation etwas entspannte, ging es zusehends besser. Selim, der damals in Paris studierte, brauchte länger. Er, der Älteste, wollte eine Zeit lang nichts mehr mit seiner Mutter zu schaffen haben. Aber Lotti hat nicht aufgehört, ihm zu schreiben, ihm zu signalisieren, dass sie nicht verschollen, sondern vorhanden ist. Ihre Hartnäckigkeit hat sich gelohnt. Es kam der Tag, als Selim realisierte, dass er sein Studium in Paris abbrechen und – genau wie seine Schwester Sonia – an die Hotelfachschule Lausanne gehen wollte. Selim wusste, ich würde seinen Entscheid nicht so ohne weiteres akzeptieren. Nun, Selim wusste auch, dass es nur eine Person gab, die mich bearbeiten konnte. Selim telefonierte, nach monatelanger Funkstille, mit seiner Mutter in Abidjan. Es war der Beginn einer neuen Mutter-Sohn-Beziehung, die darin gipfelte, dass Selim mir kürzlich sagte, er sei an dem, was Lotti mache, gewachsen.
Ich weiss, dass Lotti eine Zeit lang erwartete, dass ich mit meiner Leidensfähigkeit an eine Grenze stossen würde. Ich weiss, dass sie damit rechnete, ich würde die Scheidung verlangen. Ich weiss, das heisst, ich wusste aber auch, dass mir dies nichts gebracht hätte. Abgesehen mal von Scherereien. Eine Scheidung hätte ja wohl bedeutet, dass ich mir eine neue Frau hätte suchen müssen, hätte ziemlich sicher bedeutet, dass diese sehr viel jünger gewesen wäre als ich, was wiederum bedeutet hätte, dass sie womöglich noch Kinder hätte haben wollen. Für Selim, Sonia und Sarah wäre dies die endgültige Katastrophe gewesen. Für mich auch. Denn ich hatte immer diesen Traum, mit Lotti älter und alt zu werden. Was in einer Partnerschaft zählt, was schliesslich zählt, ist nicht die Körperlichkeit, sondern die innere Schönheit. Das Herz, der Geist, der Humor, die Seele. Das, was durch die Augen strahlt.
Wie und wo hätte ich dasselbe Strahlen, das Lottis Augen, je älter sie wird, desto intensiver leuchten lässt, je wieder finden können? Wie hätte ich eine neue Frau lieben können, wenn mir jede Bewegung, jede Zärtlichkeit, jede Berührung, jeder Kuss zum Bewusstsein gebracht hätte, was ich verloren habe? Abgesehen davon, wie hätte ich das alles ersetzen können, was wir in dreissig Jahren miteinander erlebt haben? Lotti verlassen, weil sie sich an einer Weggabelung nicht für meinen Weg entschieden hat, sondern ihren eigenen erkannte und diesen verfolgte?
Mein Respekt Lotti gegenüber, meinen Kindern gegenüber und letztlich auch mir gegenüber hätte eine Scheidung nie zugelassen. Es gab eine Zeit, in welcher es Lotti recht gewesen wäre, ich hätte den endgültigen Schritt weg von ihr gemacht, weil sie darin einen Ausweg für mein Leiden sah. Ich fand eine andere Möglichkeit. Ich zwang mich – jeden Tag aufs Neue – dazu, Lotti zu verstehen. Über den Versuch, zu verstehen, warum sie in Abidjan bleiben musste, hoffte ich Frieden zu finden. Im Arabischen gibt es für das Wort Frieden und das Wort Verständnis zwei sehr ähnliche Wörter, sie heissen: Salam und Essamah.
Geholfen hat mir auch, dass ich hinter den Tränen, die Lotti weinte, wenn sie von Abidjan aus telefonierte, ihre Liebe erkennen konnte. Lotti hat mich damals oft gefragt: ‹Warum lässt Gott die am meisten leiden, die er am meisten liebt?› Die Worte: ‹Ich liebe dich›, hat sie damals nie gesagt. Nicht, weil sie sie nicht sagen wollte, sondern weil sie mir nicht noch mehr Leid zufügen wollte. Sie schrieb mir oft sehr lange Briefe, auch diese endeten nicht immer mit den Worten ‹Ich liebe dich›, aber das, was Lotti zwischen den Zeilen auszudrücken vermochte, machte mich glücklich. Ich habe alle ihre Briefe aufgehoben. Habe sie sicher verwahrt in einem Tresor, der in meinem Büro in der Fabrik steht. Ich glaube nicht, dass sie das weiss. Unsere Liebe wurde tiefer, zärtlicher, inniger.
Lotti kommt – und da kann die Welt untergehen – immer dann, wenn Sarah Geburtstag hat. Der dreissigste Mai ist unser ‹jour fixe›, der fixe Tag im Jahr. Ich gehe dann jeweils an den Flughafen, und wenn ich Lotti in ihren blauen Jeans, mit ihrem kleinen Rollkoffer und ihrem Strahlen aus dem Zoll kommen sehe, wir uns umarmen und die Begrüssung nicht in einem innigen Kuss, sondern ganz tief innen
Weitere Kostenlose Bücher