Madame Lotti
für diesen Zweck organisiert wurde, steht nun in der Ecke, in die abends der Fernseher gestellt wird. Ich habe Noël nicht gefragt, was er einst werden möchte. Weil er gemerkt hätte, dass ich Konversation mache, um der Wahrheit nicht ins Gesicht schauen zu müssen. Eine Wahrheit, die er selbst nicht verleugnete, sondern im Gespräch mit Arlette sogar von sich aus thematisierte. Weil er selbst die Kraft dazu hatte? Oder weil ihm die Atmosphäre hier die Möglichkeit gab, über seinen Tod zu sprechen? Lotti erzählte mir einst eine Geschichte, die mir jetzt wieder in den Sinn kommt. Sie handelt von Vanessa.
Vanessa, ein neunjähriges Mädchen, kam mit seiner Grossmutter ins Ambulatorium. Mutter und Vater waren gestorben, Vanessas Allgemeinzustand verriet woran: Aids. Vanessa wurde positiv getestet. Lotti nahm die Hände der Grossmutter in ihre: «Wir sind da, wenn Sie uns brauchen.»
Die Grossmutter bat Lotti, Vanessa hier lassen zu dürfen, sie ertrage den ständigen Durchfall ihrer Enkelin nicht mehr. Nicht weil es sie störe, die Kleine zu säubern, sondern weil sie in einem Hof unter einem löchrigen Blechdach wohnten und keine Tür hätten, die sie vor neugierigen Augen schützte. Ausserdem habe sie nur dann etwas zu essen für die Kleine, wenn sie sich ein paar Francs zusammengebettelt habe, was mitunter Tage dauern könne. Damals war das Sterbespital noch im Bau, und die Patienten, die unbedingt hospitalisiert werden mussten, lagen im Ambulatorium. Die wenigen Betten, die es gab, waren alle besetzt. Also holte Lotti die grosse Matratze aus ihrem Gästezimmer, legte sie im Labor auf den Boden, und Vanessa und ihre Grossmutter hatten ein Zimmer ganz für sich allein.
Die Grossmutter kümmerte sich rührend um ihre Enkelin, der es – dank der regelmässigen und proteinreichen Nahrung – schon bald etwas besser ging, so dass sie sich unter den Sonnenschirmbaum setzen und mit den anderen Kindern spielen konnte. Doch alles Aufpäppeln half nichts, bald nahm der Durchfall wieder zu, und Vanessa lag nur noch im Bett. Lotti ging oft zu ihr, streichelte sie, sagte ihr, wie schön sie sei, und versuchte ihre Schmerzen mit Medikamenten zu lindern. Dann, es war an einem Sonntagabend, löste Lotti die Grossmutter ab, die einen Spaziergang machen wollte und nicht damit rechnete, dass ein Regen mit Donner, Blitz und Sturm über dem Slum niedergehen würde. Die schweren Tropfen schlugen derart auf Boden, Dach und Mauern, dass man das eigene Wort nicht mehr verstand. Also sass Lotti neben Vanessa auf der Matratze, und die beiden sprachen mit den Augen.
Nachdem die Wolken sich verzogen und der Dämmerung Platz gemacht hatten, fragte Vanessa: «Madame Lotti, darf ich dir Mami sagen?»
«Ja, das darfst du. Sag, warum möchtest du das?»
«Weil», meinte die Kleine daraufhin und sah Lotti unverwandt an, «weil ich sterbe.»
Lotti erwiderte den Blick. «Das spürst du, Vanessa?»
Die Kleine antwortete, natürlich merke sie das, sie sei ja schliesslich schon auf dem Weg. Lotti blieb für einmal nicht sitzen, sondern stand auf, ging nach draussen. Atmete tief durch. Schluckte an Tränen runter, was möglich war. Die Hände zusammenpressen, die Lippen. Einatmen. Ausatmen. Mit jedem Atemzug tiefer Luft holen, sich beruhigen, nicht schreien, nicht anklagen, nicht fragen: «Warum gerade Vanessa?»
Lotti gelang es, sich zu sammeln und das zu tun, wozu Vanessa sie indirekt aufgefordert hatte, sie ging zurück ins Zimmer und redete mit ihr über den Tod.
«Wie merkst du, dass du stirbst?», begann sie das Gespräch.
Es gebe kein Wie, es sei einfach da, nicht als Gefühl, sondern als Gewissheit.
Lotti fragte, ob sie Schmerzen habe, ob das Sterben ihr wehtue.
«Nein, überhaupt nicht, nicht einmal der Gedanke, dass ich bald nicht mehr hier bin, schmerzt mich. Vielleicht tönt das jetzt so, als würde ich lügen, aber ich fühle mich wohl. Ruhig. Darf ich heute bei dir schlafen, Mami?»
In diesem Moment kam die Grossmutter rein, von oben bis unten durchnässt, Lotti reichte ihr ein Frottiertuch, liess ihr Zeit, die Kleider zu wechseln, und fragte sie dann, ob sie etwas dagegen hätte, wenn sie Vanessas Wunsch nachkäme. Die Grossmutter sah darin kein Problem, und so wurde die kleine Vanessa die steilste aller Treppen hinaufgetragen und verbrachte ihre letzte Nacht neben ihrer neu erworbenen Mami.
So schnell das Kind schlief, so unmöglich war es Lotti «wegzutauchen». Die Gefasstheit, mit der Vanessa ihrem nahen Tod
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