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Madame Lotti

Madame Lotti

Titel: Madame Lotti Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: G Arx
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gelockter Jesus, der seine Hände ausbreitet und dessen Herz nicht in seiner Brust schlägt, sondern darüber. Das Bild erinnert mich an ein Gemälde, das bei meinen Urgrosseltern über dem Bett hing.
    Inzwischen ist Noël ganz ruhig, keine unkontrollierten Bewegungen mehr. Ich erkenne, dass ich die Gelegenheit verpasst habe, ihn zu fragen, ob ich das Bild, das ich vor zwölf Stunden zu seiner Freude von ihm gemacht habe, veröffentlichen dürfe, um der Welt sein Strahlen zu zeigen. Die Erlaubnis gibt mir später sein Grossvater.
    Die Atemzüge Noëls werden langsamer, der Puls unter meinen Fingern hingegen rast. In Noëls Gesichtszügen spielt sich eine rasante Verwandlung ab. Innert einer Stunde wird der Siebzehnjährige zum Greis. Es ist, als ob eine Raupe es eilig hat, sich zu verpuppen, damit sie möglichst bald als Schmetterling die Hülle sprengen kann.
    Noël lehrt mich, dass der Tod nicht dieser in einen dunklen Mantel gehüllte Sensenmann ist. Der Tod ist, zumindest in diesem Moment, etwas, das hell ist und nicht Furcht, sondern Frieden verströmt. Etwas, das nicht schreitet, sondern fliegt. Sterben verliert für einige Sekunden seinen Schrecken. Der Tod sein Grauen. In Noëls Gesicht liegt ein Frieden, den ich bis anhin nur bei Aïcha gesehen habe. Ihr Sterben damals und das von Noël jetzt lehren mich noch etwas anderes: Geburt und Tod haben beide ihre Gesetzmässigkeiten und sind sich vielleicht viel näher, als uns lieb ist.
    Ein Geräusch holt meine Aufmerksamkeit ins Zimmer zurück. Lotti ergeht es gleich. Wir schauen uns danach um und lächeln uns zu.
    Der blinde Felix ist aufgewacht, hat sich aufgesetzt und streicht wieder mal die Falten aus seinem Leintuch, die ihn offensichtlich wirklich entsetzlich stören. Als er damit fertig ist, steht er auf, streckt sich, hebt abwechselnd erst den einen, dann den andern Arm, macht dann Schritte an Ort, setzt sich wieder, streicht erneut die Falten aus dem Leintuch, legt sich hin, zieht vorsichtig die Tagesdecke über sich.
    «Felix, brauchst du etwas?»
    «Ja, eine Wolldecke bitte.»
    Als Lotti sie über ihm ausbreitet, sagt sie: «Noël stirbt.»
    Felix nickt: «Ich weiss.»
    Wieder zurück, setzt sie sich auf Noëls Bettkante, legt beide Hände auf seine Brust und flüstert: «Lange geht es nicht mehr, Noël, du hast es bald geschafft.»
    Und kurz darauf hört Noël tatsächlich auf zu atmen. Doch dann holt er – als ich es längst nicht mehr erwarte – plötzlich mit einem tiefen Seufzer noch einmal Luft. Atmet wieder. Regelmässiger. Nach einer ganzen Weile hört er abermals auf. Und beginnt von neuem.
    Als es draussen ans Tor poltert, erschrecke ich. Monsieur Konaté geht hin, fragt, wer da sei und was man wolle, und lässt dann Noëls Grossvater rein. Lotti geht ihm entgegen, geleitet ihn herein. Er weint leise, faltet die Hände und betet. Er schafft es nicht, seinen Enkel ein letztes Mal zu berühren, und nickt Noël kaum merklich zu, als er rausgehen muss, weil er es hier nicht mehr aushält. Seine Lippen bewegen sich dabei ganz leicht. Zwei Minuten später, Roberts Uhr zeigt zehn nach zwölf, legt sich Entspannung über Noëls Gesicht. Anders als bei Aïcha. Aber auch bei ihm wiederholt sich die Erkenntnis, dass wir, wenn wir kommen, weinen, und wenn wir gehen, lächeln.
    Während Lotti mit Monsieur Konaté Noëls Körper in die Leichenhalle trägt, setze ich mich zum Grossvater auf die Bank vor der Apotheke. Als Lotti kommt, verabschiede ich mich und gehe durch den wegen eines Stromausfalls gänzlich dunklen Slum zum Ambulatorium. In der Hoffnung, dass Ouattara mich nicht sieht, schleiche ich mich hinein. Doch Ouattara wäre ein schlechter Nachtwächter, wenn er mich nicht bemerkt hätte. Aber er spürt, dass ich heute nicht mehr schwatzen will, grüsst mich wortlos, lässt mich ziehen.

Dienstag, 9. März
    Um Viertel vor sechs Uhr schrillt mein Wecker. Ich hätte ihn ebenso gut schon vor einer Stunde abstellen können, als ich weinend aufgewacht war. Der Traum verschwand, zusammen mit den Tränen, bei meinem ersten klaren Gedanken. Dieser gehörte Noël. Dem Jungen, von dem ich so wenig weiss und dem ich mich trotzdem so nahe fühle. Er hatte das Alter meiner Tochter, er hätte – ich beginne wie Lotti zu denken – mein Sohn sein können. Jetzt ist er tot. Er war, das hatte er mir erzählt, aufs Gymnasium gegangen. Lotti hatte ihm versprochen, einen Privatlehrer zu engagieren, der ihn am Krankenbett unterrichtet. Die grosse Tafel, die eigens

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