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Madame Lotti

Madame Lotti

Titel: Madame Lotti Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: G Arx
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Eltern im Himmel abholten, auch wenn dies eigentlich umgekehrt geplant wäre.»
    Bei diesen Worten musste ich an ein Lied von Eric Clapton denken, das ebenso traurig wie wunderschön ist. Er schrieb es 1991, nachdem sein vierjähriger Sohn Conor aus dem Fenster zu Tode gestürzt war. Die feste Stimme, mit welcher er die Worte singt, die er an seinen Sohn richtet, zeugt davon, wie erfolgreich diese Form von Trauerarbeit für den Vater gewesen sein muss. Das Lied trägt den Titel «Tears In Heaven», und Eric Clapton fragt seinen kleinen Sohn darin, ob er seine Hand halten werde, wenn er ihn im Himmel sehe. Eine Strophe des Liedes sagt, mit anderen Worten, genau das, was Arlette gestern gesungen hat: «Die Zeit kann dich fertig machen. Die Zeit kann dich einsam machen. Die Zeit kann dein Herzen brechen, dich betteln lassen. Doch hinter der Türe ist Frieden, da bin ich sicher, und ich weiss, , im Himmel wird es keine Tränen mehr geben.»
    Keine Dusche heute und auch kein Frühstück. Kein Hunger. Ich gehe hinunter ins Sterbespital, treffe auf halbem Weg Lotti, die unterwegs zum Kiosk ist, überlege kurz, ob ich nicht doch auf einen Tee mitkomme, entscheide mich dagegen. Als ich zum Tor des Sterbespitals komme, stosse ich um ein Haar mit Aimé zusammen, der unterwegs zum Gymnasium ist. In der Hand hält er das Geld fürs öffentliche Taxi. Er habe heute Deutsch, erklärt er, fragt dann, ob ich ihm am Abend bei den Hausaufgaben helfe. Ich verspreche es, und er humpelt mit seinem eingebundenen Fuss zufrieden davon.
    Mamadou scheint wieder zu Hause zu sein, denn Alphonse liegt, wo er nicht liegen will. Alimata sitzt auf ihrer Matte unter freiem Himmel. Ich knie mich kurz zu ihr, streichle über ihr Gesicht, und – tatsächlich – da ist es: ein kaum sichtbares Zucken der Mundwinkel. So verhalten, dass es sich nicht in ihren Augen spiegelt.
    Bevor ich zu den Kleinen gehe, die sich gerade an den niedrigen Tisch setzen, den ihnen Lotti – zusammen mit sechs Stühlchen und den Worten: «Ab sofort wird nicht mehr auf dem Boden gegessen!» – geschenkt hat, schaue ich bei Felix vorbei. Er sitzt auf dem Bett, faltet mit grösster Sorgfalt und sehr bedächtig sein Leintuch.
    «Guten Morgen, Felix.»
    Auch sein Lächeln findet keinen Widerhall in den toten Augen, dafür in jeder Pore seines Körpers. Die Freude, Besuch zu bekommen, springt mich förmlich an.
    «Weisst du, wo YaYa ist?», fragt er.
    Nein, ich weiss es nicht, aber seit ich hier angekommen bin, vermisse ich diesen jungen Mann, der, wenn er lacht, ein Gefühl von Wonne im Sterbespital verbreitet. Und – das wird mir erst jetzt bewusst – ich vermisse dieses Bild, dem ich im letzten Juni den Titel gab: «YaYa und der blinde Felix auf ihrem gemeinsamen Weg». Es steht für das, was hier passiert, für das, was Lotti vorlebt. YaYa geht nicht neben Felix her und führt ihn, er steht auch nicht hinter ihm und stösst ihn. Nein, er geht vor ihm, hält Felix’ Hände und – zieht ihn. Felix gibt dabei das Tempo an. Jeden Tag geht es etwas schneller, jeden Tag entwickelt der Blinde mehr Vertrauen.
    YaYa schleppte beim Bau des Sterbespitals Beton, und als das Haus stand, fragte er Lotti, ob er weiterhin für sie arbeiten dürfe. Auf ihre Bemerkung hin, dafür sei er vielleicht noch ein bisschen gar jung, meinte er, versuchen könne man es ja. Er hat mir einmal erzählt, dass die ersten Tage tatsächlich sehr schwierig waren, aber es habe nicht lange gedauert, dann sei es für ihn einfach normal gewesen, die Menschen zu pflegen, die niemand mehr haben wolle, und – fürs Windelnwechseln gebe es ja Handschuhe.
    Ich verspreche Felix, Lotti zu fragen, wo sein Lieblingspfleger stecke, und ihm dann Bescheid zu geben.
    Felix erwähnt die gestrige Nacht und Noëls Tod mit keinem Wort. Und weil ich etwas über Noël sagen möchte, frage ich ihn, ob er wisse, wer da in Noëls Bett schlafe.
    «Klar», sagt er, «das ist doch Frank.»
    Jetzt erinnere ich mich, er lag bis jetzt im Hof. Mit einer Blutvergiftung, die nicht mehr zu stoppen ist. Die Schmerzen, die ihm sein komplett vereiterter Körper verursacht, treiben ihn knappe zwei Wochen später – als ich schon längst wieder zu Hause bin – so weit, den Hals einer Hustensaftflasche abzuschlagen, um sich mit den Scherben die Pulsadern aufzuschlitzen. Seine Kraft reichte nicht. Erst vier Tage später trat das ein, was er so sehnlich herbeigesehnt hatte – absolute Schmerzfreiheit.
    Leise

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