Madame Lotti
entgegensah, liess sie nach dem Grund dafür suchen. Vielleicht gehen Kinder ruhiger, weil sie nicht daran denken, was sie noch alles verpassen könnten. Vielleicht, weil sie den Tod nicht als Ungerechtigkeit ihnen gegenüber empfinden, ihn nicht persönlich nehmen, sondern als von der Natur gegeben. Vielleicht, weil sie die Frage «Warum gerade ich?» noch nicht stellen.
Vanessa hatte auch sonst keine Fragen. Sie erwachte am Morgen, sagte: «Danke!» und fiel, kurz nachdem man sie wieder ins Labor getragen und zu ihrer Grossmutter gelegt hatte, ins Koma.
Als ich auf die Uhr schaue, realisiere ich, dass ich die Zeit vergessen habe und mit Duschen heute wohl nichts mehr wird. Also bleibe ich liegen, denke an meinen an Aids verstorbenen Freund in der Schweiz, frage mich, wieso ich nicht die Kraft hatte, mit ihm über seinen baldigen Tod zu sprechen. Weil er es nicht wollte? Oder weil ich es nicht konnte? Warum habe ich damals nicht einfach gefragt: «Wollen wir reden?» Wie oft schon habe ich von Bekannten gehört, dass sie genau dies auch nicht geschafft haben. Obwohl sie genau wussten, wie wenig Zeit dem anderen noch blieb, nutzten sie sie nicht. Genügt der Satz «Er hat es nicht gewollt» als Entschuldigung?
Mein Vater wird dieses Jahr achtzig Jahre alt. Es geht ihm gut, er ist nach wie vor ein Krampfer. Entweder hackt er Holz für seinen Kachelofen, oder er schleudert den Honig seiner Bienen. Zur Entspannung liest er jede Zeitung, die ihm in die Hände kommt, oder spielt Karten. Manchmal tönt er an, dass es mit ihm vielleicht nicht mehr lange gehe, und wir, seine vier Kinder, sagen dann: «So wie du noch beisammen bist?» Und würgen damit das ab, was er uns mit seinem Satz anbietet: Ein Gespräch über das, was wir nicht wahrhaben wollen. Dabei gibt uns sein Alter die gleiche Chance, die uns eine tödlich verlaufende Krankheit gibt: darüber zu reden. Den Tod beim Namen zu nennen.
Alter wie Krankheit geben jedem von uns die Möglichkeit, den anderen in die Arme zu schliessen und zu sagen, wie sehr wir ihn lieben. Nur packen wir sie oft nicht. Warum habe ich es noch nicht geschafft, meinem Vater zu danken? Dafür, dass er mich gelehrt hat, wie wunderbar die Natur ist, dafür, dass er stundenlang den Wald mit uns durchforstet hat, auf der Suche nach Geheimnissen. Für uns die Samen der Tannzapfen herausbrach und sie fliegen liess. Uns an einer Quelle aus grossen, beinahe runden, glattflächigen Blättern Gläschen faltete, damit wir trinken konnten wie Elfen?
Genügt es, dass ich weiss, dass er einst keinen Grabstein haben, sondern im Gemeinschaftsgrab neben seinen beiden bereits verstorbenen Brüdern liegen will? Oder sollte ich mehr wissen, sollte ich ihn fragen, welchen Pfarrer er wolle und ob dieser etwas Bestimmtes sagen solle?
Ein plötzlicher Unfalltod, ein plötzliches Herzversagen lassen uns keine Zeit. Alter und Krankheit hingegen schon. Warum also nehmen wir die Gelegenheit nicht wahr? Weil wir zu beschäftigt sind, um uns mit dem zu beschäftigen, was uns beschäftigen sollte? Weil wir vor lauter Überlebenwollen das Ende einfach ausblenden?
Als Lotti in der Schweiz war, starb der Sohn einer ehemaligen Schulkollegin von ihr. Er hiess Thomas. Thomas stieg zu einem Freund aufs Motorrad. Ein schnelles Motorrad. Zu schnell für die enge Kurve. Der Bus, der kam, liess den beiden keine Chance. Dass Lotti zu diesem Zeitpunkt gerade hier war und Thomas’ Eltern trösten konnte, war vielleicht ein Zufall. Als sie von der Beerdigung zurückkam, fragte ich sie, ob es möglich sei, Eltern, die einen solchen Verlust erlitten hatten, zu trösten.
«Ich versuchte ihnen zu erklären, wie schön es sei, dass ihr Sohn zwanzig werden konnte. Wie schön, dass Thomas so viel hatte lernen und erleben können. Wie schön, dass er die Liebe kennen lernen durfte und zurückschauen konnte auf eine behütete Kindheit. Wie schön, dass er wissen konnte, was für einen Wert er für seine Freunde, seine Eltern, seine Freundin hatte. Ich sagte ihnen, sie sollten versuchen, dafür zu danken, was er alles gehabt habe, und nicht darüber klagen, was er alles nicht mehr haben wird. Ich bat sie, es als Geschenk zu nehmen, dass sie ihn lachend und vor Lebenslust strotzend in Erinnerung behalten können und ihn nicht im Koma liegend erleben mussten, aus welchem er – wenn überhaupt – höchstwahrscheinlich nicht mehr als Thomas, wie sie ihn kannten, erwacht wäre. Und ich sagte ihnen, manchmal seien es die Kinder, die ihre
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