Madame Lotti
gehe ich an Frank vorbei zur offenen Tür der Leichenhalle, in der Noël, mit einem Tuch bedeckt, liegt. Die Sonne fällt auf seine Brust. Unter dem Stoff zeichnet sich der Rosenkranz ab. Als ich mich abwende, stehe ich vor seinem Grossvater. Er habe, sagt er, bereits alles organisiert, Noël werde in zwei Stunden abgeholt.
Dann meint er: «Ich möchte Ihnen Danke sagen, dass Sie ihn gestern nicht allein gelassen haben. Ich habe es leider nicht geschafft, im Zimmer zu bleiben.»
Nach einer Pause: «Ich wünschte, ich hätte es gekonnt.»
Ich versichere ihm, dass Noël sein Kommen gespürt habe. «Dass Sie nicht die ganze Zeit im Zimmer waren, spielt keine Rolle, Sie waren da, allein das zählt.»
Er nimmt den Trost mit einem Kopfnicken entgegen, fragt dann nach Lotti. Und bevor ich ihm erklären kann, sie sitze wohl noch beim Frühstück, höre ich sie draussen hupen. Wohl weil die Hühner mit ihren Küken zu langsam Platz für ihren Geländewagen machen.
Lotti nimmt sich Zeit für den Grossvater. Zeit, die ich mit Emanuel, Willy, Christ, Mohamed und Antoine verbringe. Wir bauen die Duplo-Eisenbahn zusammen, sind dabei alle sehr zufrieden und glücklich. Bis Emanuel findet, die Lokomotive mache sich in seiner Hand besser als in der von Mohamed. Der Kleine wehrt sich, indem er dem Grösseren die Lokomotive auf den Kopf haut, was ein zweistimmiges Gebrüll verursacht. Antoine erschrickt ob dem Zetermordio, beginnt ebenfalls zu weinen. Einzig Christ ist glücklich und zufrieden. Er hat sich in die Duplo-Kiste gesetzt und schöpft nun aus dem Vollen. Was wiederum Willy stört, der auch dort sitzen will.
Trösten, trösten, trösten. Erst die zwei Streithähne, dann Willy, dann Antoine, das süsseste Baby, das ich je gesehen habe. Ich lege ihn mir bäuchlings auf den Arm, tue, als liesse ich ihn fallen, und freue mich an seinem vergnügten Quietschen. Allerdings nicht lange, denn bald bin ich umringt von den anderen vier, die das, was Antoine gerade erlebt, auch haben wollen. Weil ich nicht fünf Kinder durch die Luft wirbeln will, husche ich in Lottis Büro und komme mit Seifenblasen zurück. Zaubere regenbogenfarbene Kugeln in die Luft, die sich auf kleine Nasen und Ohren und Fingerspitzen setzen und dort zerplatzen. So schnell kann sich das Glück in Nichts auflösen, so blitzschnell kanns gehen. Ich kann noch nicht wissen, dass Antoine, der negativ ist, im Juli 2004 an einem Hirnausfall sterben wird – und Mohamed Ende August 2004 an einem epileptischen Anfall.
Nachdem Noëls Grossvater sich verabschiedet hat, gehe ich zu Lotti, um mich nach YaYa zu erkundigen.
«Er hat frei genommen, er wird morgen wieder kommen, vermisst du ihn?»
«Vor allem Felix vermisst ihn.»
«Ah, das habe ich ganz vergessen, ich hätte es ihm sagen müssen, so was Blödes! Weisst du, obwohl YaYa kein Wort Englisch spricht und Felix keines auf Französisch und obwohl zwischen den beiden sicher vierzig Jahre liegen, verstehen sie sich blendend. Also geh schnell, sags ihm, und danach müssen wir in die Stadt!»
In die Stadt? Lotti hat den Termin fast vergessen. Sie wurde von der «Vereinigung internationaler Frauen der Elfenbeinküste» eingeladen, einen Vortrag über ihr Sterbespital zu halten. Und zwar heute um elf Uhr. Zehn Minuten später scheuchen wir die drei Hühner mit ihrem noch vollzähligen Nachwuchs auf, fahren am Ambulatorium vorbei und zur Hauptstrasse rauf.
Plötzlich tritt Lotti auf die Bremse: «Die Frau aus Ghana! Total vergessen, die braucht doch das Geld für den Bus zurück in ihre Heimat!»
Sie würgt den Rückwärtsgang rein und fährt holterdiepolter zum Ambulatorium, wo die von ihrem Schwager misshandelte Frau samt ihren beiden Kindern geduldig auf der Bank sitzt und wartet. Lotti gibt ihr mehr, als sie braucht, damit sie sich Proviant für die Reise besorgen kann.
Eine halbe Stunde später stehen wir im Stau, und ich bekomme eine leise Ahnung davon, was es heisst, mit einer drei Monate alten Tochter und einem drei Jahre alten Sohn während zwei Tagen in einem Bus von Abidjan nach Ghana zu reisen. Der Stau wurde durch einen Bus verursacht, der offenbar einen Achsenbruch erlitt. Auf seinem Dach ist unter Planen packenweise und meterhoch Gepäck verstaut. Die Menschen, die sich im Bus befinden und – in der Hoffnung, der Bus fahre gleich weiter – nicht bereit sind, diesen zu verlassen, stehen so dicht gedrängt, dass ich vermute, man habe die Sitze herausmontiert, um möglichst viele Passagiere
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