Madame Lotti
spielen würde, dass wir ihn thematisierten. Die Verdrängung ist himmelschreiend. Hier beispielsweise sagt man den Kindern nicht, die Mutter sei gestorben, man sagt ihnen, sie sei verreist. Vor etwa drei Monaten starb eine junge Frau bei mir. Die ganze Familie war anwesend, was an sich schon an ein Wunder grenzt. Sie sassen am Bett, sie beteten, es war gut. Nur hatten sie ihren siebenjährigen Sohn in der ganzen Trauer im Hof sitzen lassen. Ich fragte den Vater, ob ich mit dem Kleinen reden dürfe, und auf sein Ja hin warnte ich ihn, dass ich ihm die Wahrheit sagen und keine Märchen auftischen würde. Er bat mich, genau dies zu tun. Ich ging also raus, setzte mich zu dem Kleinen hin, fragte, ob er wisse, was mit seiner Mutter passiere. Er schüttelte den Kopf und schaute mich mit grossen Augen an. , wollte ich nun von ihm wissen. Und wieder machte er grosse Augen und wieder schüttelte er den Kopf. Ich nahm ihn bei der Hand und begleitete ihn ins Zimmer, setzte mich neben seine Mutter, die im Koma lag, nahm ihn auf den Schoss und sagte zu seinem Vater, es werde wohl langsam Zeit, dass sein Sohn erfahre, was ein Engel sei.»
«Und dann hast du dem Kleinen gesagt, ein Engel trage ein langes weisses Gewand und habe Flügel?»
«Ja, so ähnlich. Ich habe ihm erklärt, Engel seien grosse, starke Frauen mit wunderbar vollem Haar, und es gebe unter den Engeln ganz besondere Gestalten, die nenne man Schutzengel, und seine Mutter sei auf dem Weg, ein solcher zu werden. Sie tue dies allerdings nicht, weil sie ihn nicht lieb habe, denn es gebe niemanden, weder hier bei uns noch bei den Engeln, den seine Mutter mehr liebe als ihn. Seine Mutter werde sterben und ihm am Morgen kein Frühstück mehr machen und ihn am Abend nicht mehr in den Schlaf singen können, doch sie werde immer, immer bei ihm sein. Er werde sie nicht mehr sehen können, aber er werde sie fühlen, dafür werde der liebe Gott sorgen, denn es sei ihm nicht recht, dass er gerade seine Mami ausgesucht habe, einer seiner Engel zu werden. Der Kleine hörte aufmerksam zu und schaute mich dann fragend an. , ermutigte ich ihn, Er hatte keine Angst, streichelte ihre Wange. Dann wollte er wieder in den Hof zu den Kindern, ich begleitete ihn. Bevor ich ihn alleine liess, erklärte ich ihm, das schönste Geschenk, das er seiner Mutter machen könne, sei, wenn er viel, viel lache, wenn er sich mit Freunden treffe und spiele – wenn er glücklich sei. Ich glaube, er hat mich verstanden.»
«Er konnte Abschied nehmen, das ist schön.»
«Ich hätte ihn auch reingeholt, wenn sie schon tot gewesen wäre, es ist ganz wichtig für die, die bleiben, dass sie denen, die gegangen sind, Adieu sagen können, sie ein letztes Mal sehen. Ihnen, wenn auch nur in Gedanken, noch mitteilen können, was sie zu Lebzeiten nicht zu sagen vermochten. Nicht gesprochene Worte verschlimmern die Trauer. Wir verschieben gerne alles auf später: Wenn ich erst pensioniert bin, dann werde ich mit meiner Frau Ferien machen. Wenn meine Tochter die Abschlussprüfung geschafft hat, dann werde ich ihr sagen, wie stolz ich auf sie bin. Wenn ich den Frühlingsputz hinter mir habe, werde ich meine Eltern besuchen. Was, wenn dazu keine Zeit mehr ist? Wenn wir den Tod ins Leben integrieren, dann gehen wir, bevor wir pensioniert sind, auf Reisen, sagen unseren Kindern, ohne dass sie eine Prüfung geschafft haben, wie stolz wir auf sie sind, und besuchen unsere Eltern heute und nicht übermorgen. Ja, ja, ich weiss, immer geht das nicht, aber versuchen könnte man es, oder?»
«Ja.»
«Gut, also, gehen wir.»
«Gut, gehen wir, ich habe Aimé nämlich versprochen, ihm bei seinen Deutschaufgaben zu helfen. Heute!»
Aimé wartet schon. Hat alles bereit. Heft. Bleistift. Einen winzig kleinen Dictionnaire.
«Viele Hausaufgaben?», frage ich auf Deutsch, und Aimé legt den Kopf etwas schief: «Ja?»
Ich frage ihn auf Französisch, und er antwortet: «Ja!»
Es geht um den zweiten Konjunktiv. Oje! Ich lasse mir von Aimé erst mal erklären, was der zweite Konjunktiv ist, merke aber, dass wir uns nicht ganz einig sind. Wir raufen uns zusammen, nach einer halben Stunde sind wir so weit, dass wir das Verb im zweiten Konjunktiv im Präsens konjugieren können: Ich käme, du kämest, er käme,
Weitere Kostenlose Bücher