Madame Lotti
abfinde, dass nicht alle das tun wollen, was ich tun will. Auch wohlhabende Menschen haben ein gutes Herz. Leider hatte ich das zeitweise vergessen.»
Massgeblich Schuld daran trug eine Freundin, zu der sie einmal ging, um etwas Ablenkung zu finden.
«Ich hatte die ganze Nacht nicht geschlafen, weil eine Mutter zu mir gekommen war, die bereits zwei Kinder verloren hatte und mir nun ihr drittes brachte. Es war ein Mädchen. Sie hiess Marie und war knappe vier Monate alt. Die Mutter sagte mir, sie habe nicht die Kraft, es alleine in den Tod zu begleiten, und fragte mich, ob ich ihr helfen würde. Als ich meiner Freundin diese Geschichte erzählte, weinte ich. Und sie meinte: »
Noch heute, drei Jahre nach diesem Erlebnis, blitzt der Zorn in Lottis Augen über diese unverschämte Bemerkung, die sie damals geradezu in die Einsiedelei trieb. Es habe eine Zeit gegeben, in der sie geglaubt habe, nie mehr lachen zu können.
Auf der Rückfahrt halten wir bei einem Imbissstand, der in dicken Rauch gehüllt ist. Das Fleisch, das auf Spiesschen steckt, ist denn auch mehr geräuchert als gegrillt. Aber es schmeckt gut. Wir erhalten es in alte Endlos-Computerausdrucke eingewickelt und gehen damit zu einem nahe gelegenen kleinen Restaurant, wo wir Wasser bestellen. Es könnte gemütlich sein, wenn nicht ständig kleine Rinnsale von Schweiss, der Gravitation Folge leistend, ihren Weg über meinen Körper suchen würden. Es könnte entspannt sein, wenn es mir gelänge, Noël ziehen zu lassen. Aber er ist noch sehr nah.
«Gestern kam mir der Gedanke, dass sich Geburt und Tod vielleicht näher sind, als uns lieb ist.»
«Schön gesagt. Für mich ist es schon länger so. Der Tod ist die Geburt ins ewige Leben. Oft fragen mich Sterbende, ob der Tod schmerzhaft sei. Meine Antwort darauf ist immer dieselbe: Man sagt, die Geburt müsse für das Baby unglaublich schmerzvoll sein, doch niemand erinnert sich an diesen Schmerz. Genauso ist es wohl mit dem Tod. Falls er schmerzhaft ist, was ich nicht weiss, werden wir diesen Schmerz vergessen, weil es danach nur schön, hell und warm ist.»
«Du glaubst ans Paradies?»
«Ich mag dieses Wort nicht, ich nenne es ewiges Leben. Ja, ich glaube, dass es weitergeht. Weil ich überzeugt davon bin, dass Gott oder Allah oder wie auch immer wir diese Macht nennen wollen, die Ungerechtigkeit auf der Welt wieder gutmachen will. Im Himmel werden die Letzten die Ersten sein, da bin ich überzeugt. Die, die hier unten am meisten gelitten haben, werden dort oben am glücklichsten sein. So stelle ich mir das vor. Das Leben ist ein Tunnel. Für die einen ist er dunkler als für die anderen. Am Ende ist Licht.»
«Und für die, die aus einer immensen Dunkelheit kommen, ist das Licht umso strahlender?»
Lotti nickt. «Es muss einen Ausgleich dafür geben, dass Gott eine Fehlentscheidung machte.»
«Fehlentscheidung?»
«Er hat den Menschen die Wahl gelassen. Die Wahl …, gut zu sein oder böse!»
«Beides steckt in jedem drin, das stimmt, und die Entscheidung, welche Seite wir leben, liegt allein bei uns.»
«Ich denke, er beisst sich dort oben manchmal in die Stirn für diese Fahrlässigkeit.»
Ich lache bei der Vorstellung, dass ein Mann mit Heiligenschein und weissem Bart, auf einer dicken Wolke hockend, versucht, sich die Zähne in den Kopf zu schlagen.
«Es gibt ein schönes Zitat, das ich allerdings nur dem Sinne nach wiedergeben kann», meint Lotti, besinnt sich kurz, «.»
Später suche ich nach dem Urheber dieser Weisheit und stosse auf den Philosophen Arthur Schopenhauer, der 1860 starb, das Zitat heisst: «Wenn Gott diese Welt geschaffen hat, möchte ich nicht dieser Gott sein, denn das Elend der Welt würde mir das Herz zerreissen.»
«Hat Gott für dich ein Gesicht, Lotti?»
«Kein Gesicht, nein. Aber wir müssen ihm ein Gesicht geben, das ist schon richtig. Wer sich ein Bildnis machen kann von Gott, der – das habe ich oft …»
«Und was ist mit dem ersten Gebot, du sollst dir kein Bildnis …?»
«Gebote kann man interpretieren, das, was ich beobachte, nicht: Wer sich Gott vorstellen kann, stirbt leichter. Und wer leichter stirbt, macht es sich und seinen Angehörigen einfacher. Ich wünschte mir, dass der Tod in der Erziehung unserer Kinder eine Rolle
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