Madame Lotti
wir kämen, ihr kämet, sie kämen. Mit der Vergangenheit bekunden wir schon mehr Mühe, nicht die geringste macht uns dafür die Zukunft. Allerdings nur bezogen auf die Konjugation. Inzwischen lernen wir nämlich nicht mehr, sondern reden über Aimés Situation. In seiner sehr monotonen Stimmlage erklärt er mir, sein Fuss bereite ihm noch Schmerzen, das sei aber nichts im Gegensatz zu früher.
«Lotti hat mir sehr geholfen. Ohne Lotti wäre ich nicht mehr da. Lotti brachte mich zu Dr.Chenal, und der hat eine Therapie für mich konzipiert, die meinem Körper hilft, den Krebs in Schach zu halten. Nur ist das leider nicht immer ganz einfach. Die Chemotherapie, die ich injiziert bekomme, schadet meinen Helferzellen, die durch das HI-Virus eh schon geschwächt und deren Werte nur dank der TriTherapie noch so hoch sind. Ein Glück ist, dass ich noch nicht achtzehn bin, denn so bekomme ich die Medikamente gegen Aids noch gratis. In einem Jahr werde ich achtzehn, dann sieht das anders aus. Aber Lotti wird eine Lösung finden. Lotti findet immer Lösungen. Wollen wir weiterlernen?»
Bevor wir damit beginnen können, erscheinen Yusuf und Bouba, die ich mit einer festen Umarmung begrüsse. Weil Bouba mit seiner Mutter Assita im Slum lebt, kommt er nicht jeden Tag ins Sterbespital, und so sehe ich ihn erst heute.
«Ich habe von Yusuf gehört, dass du da bist!»
Er steckt im Hemd, das ich ihm letztes Mal mitgebracht habe, und obwohl es vor Schmutz starrt, trägt er es immer noch so stolz wie am ersten Tag. Bouba, der all seine Geschwister an Aids verloren hat und selbst positiv ist, ist nach wie vor so gesund, dass er keine Medikamente braucht. Ein kleines Wunder. Die beiden fragen, ob sie stören, sie würden sich nämlich auch gerne an den Tisch setzen und basteln. Aus arg zerfledderten, irgendwo ausgegrabenen alten Illustrierten falten sie daraufhin Pistolen. Aimé und ich schauen uns lächelnd an, und er beginnt die Fragen vorzulesen, die er auf Deutsch beantworten muss: «Was … ist … ein … gemüt … liches … Zimmer?»
Er liest langsam, was nicht so sehr mit seinem Deutsch zu tun hat als viel mehr mit der Druckqualität des Aufgabenblattes. Überhaupt sind die Hefte und Bücher, die er ausgepackt hat, von unglaublich schlechter Qualität.
«Also, Aimé, was ist ein gemütliches Zimmer?»
«Was heisst gemütlich?», will er zuerst wissen, und wir schlagen das Wort in Französisch nach. Als er die Frage vollkommen verstanden hat, kommt seine Antwort prompt: «Ein gemütliches Zimmer ist ein warmes Zimmer.»
«Sind die Zimmer bei euch nicht immer warm?»
«Nein, im Winter nicht, im Winter kann es kalt werden, und dann wünschte ich, ich hätte einen Ofen.»
«Und was ist ein gemütliches Zimmer noch?»
«Ein gemütliches Zimmer hat ein Bett mit einer Matratze.»
«So wie deins?»
«Ja, Lotti hat mir ein sehr gemütliches Zimmer eingerichtet, es fehlt nur ein Schreibtisch. Alles andere habe ich.»
«Also schreib auf, was du in deinem gemütlichen Zimmer alles hast.»
Und Aimé schreibt: «Ein gemütliches Zimmer hat eine Garderobe und ein Nachtlicht und einen Ventilator.»
Als er fertig ist, meint er: «Ein gemütliches Zimmer hat auch einen Fernseher, oder? Haben deine Kinder ein Zimmer mit Fernseher?»
«Nein, das haben sie nicht.»
Aimé schaut mich überrascht an: «Warum nicht?»
«Weil ich will, dass sie lesen, so wie du.»
«Du weisst, dass ich lese?»
«Lotti hat es mir gesagt, sie ist sehr stolz darauf, wie oft du sie um neue Bücher bittest. Was liest du am liebsten?»
«Krimis, Liebesromane, Illustrierte, alles, was mir in die Hände kommt. Ich liebe es, zu erfahren, wie die Menschen in der anderen Welt leben, wie gut es ihnen geht. Es überrascht mich sehr, dass nicht alle einen Fernseher im Zimmer stehen haben.»
Aimé lächelt, betont noch einmal: «Das überrascht mich sehr.»
Dem Geschrei nach zu urteilen, werden die Kleinen schon wieder geschrubbt und gepudert. Ich verziehe mich in Lottis Büro, um endlich meine handschriftlichen Notizen in den Laptop zu schreiben. Nach einer Stunde erscheint die Warnung, er brauche Strom. Gut, soll er kriegen. Denkste. Der Stecker ist drei-, die Steckdose zweipolig. Und einen Adapter habe ich nicht mitgebracht. Logisch nicht, schliesslich war es die beiden letzten Male kein Problem. Weder mein Tauchsieder noch mein Handy und auch nicht mein alter Laptop hatten einen dreipoligen Stecker. Nun, der neue, den ich jetzt dabeihabe, der hat einen.
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