Madame Lotti
dass sie schläft. Als ich mich wieder abwende, schlägt sie allerdings die Augen auf und meint: «Was willst du?»
Sie sagt das nicht böse, eher erstaunt.
«Dir einen guten Tag wünschen. Dich fragen, wie es dir geht.»
«Mir geht es gut, ich werde bald heiraten.»
Ich habe von Lotti erfahren, dass Émilie verheiratet war, und zwar mit einem Weissen. Lotti erzählte mir, sie habe ein gutes Leben gehabt damals – ihr Mann habe sich, seitdem die Diagnose klar ist, allerdings nicht mehr blicken lassen. Trotz der fortgeschrittenen Krankheit sehe ich, wie schön Émilie gewesen sein muss. Gross und stolz.
«Du heiratest? Dann kann ich ja gratulieren.»
Einen Moment lang bin ich mir nicht sicher, ob Émilie als Nächstes spucken oder reden wird, weiche zurück. Ich muss mich aber gleich wieder vorneigen, weil das, was Émilie jetzt sagt, so leise daherkommt, dass es fast unverständlich ist. Und weil ich denke, dass ich mich verhört habe, frage ich nach: «Was sagst du, wen heiratest du?»
Diesmal kommt es lauter: «Den Papst!»
Der Ernst in ihrer Stimme lässt mich mein Lachen unterdrücken. Ich setze mich zu ihr, was sie ganz offensichtlich sehr nett findet, denn sie lächelt mich an. Das Einzige, was in diesem Moment daran erinnert, wie unberechenbar sie ist, sind ihre nach wie vor festgebundenen Hände.
«Den Papst? Oh, pardon», sage ich nun und rufe damit etwas hervor, das mich die nächsten Tage, wenn ich sie sehe, immer wieder von neuem fasziniert. Zwischen ihren Augenbrauen, dicht über der Nasenwurzel, kräuselt sich ihre Haut, so wie Wasser sich kräuselt, wenn der Wind seine Oberfläche kitzelt.
Sie entlarvt mich: «Du glaubst mir nicht?»
«Doch», lüge ich, um ihre plötzliche Traurigkeit wegzureden, «doch, ich glaube dir.»
Es ist keine Spinnerei, die Émilie den Papst heiraten lassen will, es ist ihre Toxoplasmose. Aids fordert den Körper mit unzähligen von verschiedenen Krankheiten. Darunter Lungen- und Darminfekte, Pilzbefall von Mundhöhle und Speiseröhre, Gürtelrosen, Infektionen des Gehirns. Sowie das Kaposi-Sarkom, dieser augenfällige Hautkrebs, der sich durch rötlich blaue Tumore charakterisiert.
Aids ist die Abkürzung der englischen Bezeichnung für «Acquired Immuno Defiency Syndrom», was zu gut Deutsch «Syndrom erworbener Immunschwäche» heisst und den völligen Zusammenbruch des menschlichen Immunsystems meint. Hervorgerufen wird Aids durch das HI-Virus, das Virus, das die körpereigenen Abwehrzellen zerstört.
«Aids», erklärt Lotti an ihren Präventionsvorträgen vor jungen Menschen immer wieder, «Aids bekommt man nicht, man holt es sich.»
Und verteilt Kondome. Prävention, lobt sie, als sie mir dies alles erzählt, mache die Regierung bei der arbeitenden Bevölkerung inzwischen gute.
«Man geht in die Fabriken, klärt auf, gibt Präservative ab. Nur erreicht man damit leider die nicht, die in den Slums wohnen und keiner geregelten Arbeit nachgehen können.»
Nun, Lotti erreicht sie. Das wird klar, als am Nachmittag «Labor gemacht» wird. Der Laborant, der dreimal die Woche vorbeikommt, heisst Julien, und sein erster Patient ist ein zwanzigjähriger Bursche, der Lottis Aufforderung, sich testen zu lassen, nachkommt. Nicht weil er krank ist, sondern weil er während eines Vortrages von Lotti bei seinem Fussballverein erkannte, dass sie Recht hat damit, dass der, der den Test macht, mehr Mut und Grips beweist als der, der ihn nicht macht. Den Zeigefinger erhebt sie bei solchen Anlässen nie.
«Ich weiss, dass die meisten von euch kein Buch lesen können, ich weiss, dass euch das Geld, um ins Kino oder zum Tanzen zu gehen, fehlt. Ich weiss, dass ihr neben eurem Fussball nur die Liebe habt, die euch die Langeweile vertreibt, das ist auch gut so, aber ihr müsst dabei Acht geben. Auf euch genauso wie auf eure Partnerinnen.»
Und jetzt sitzt dieser junge Mann also da, hält seinen Finger hin, lässt sich pieksen, damit Julien zwei Blutstropfen auf einen Teststreifen fallen lassen kann. Nun trennen ihn noch ein paar Minuten von dem, was er dank viel Mut und Grips wissen will.
Normalerweise würde Julien ihn jetzt draussen warten lassen, um den nächsten Patienten zu testen. Aber weil er merkt, dass es wohl das Gescheiteste ist, mir meine Fragen jetzt gleich zu beantworten, damit er nachher in aller Ruhe weiterarbeiten kann, lässt er den jungen Mann im Labor sitzen.
«Ja», sagt er, «ich arbeite gerne bei Lotti. Ich schätze es, dass die Menschen die Wahrheit
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