Madame Lotti
er: «Was heisst Gute Nacht auf Englisch?»
«Good night.»
«Bonne nuit gefällt mir eh besser.»
Sagts und macht rechtsumkehrt. So schwungvoll, dass ihm das Frottiertuch von der Schulter rutscht.
Mittwoch, 10. März
Kurz nach sechs Uhr bin ich im Sterbespital, um das zu tun, was Lotti jeden Morgen tut. Die Kleinen wecken, damit sie Punkt halb sieben ihre erste Ration der Tri-Therapie erhalten. Wir hatten Wasser heute Morgen, was Ouattara ausgiebig genossen haben muss, denn als ich ihm «Good morning» wünschte, lachte er, fragte, ob ich ihm Englisch beibringen wolle, und roch dabei so wunderbar nach Seife, dass ich den Duft noch jetzt in der Nase habe.
Ich knie mich auf die Matratze, sehe den sechs beim Schlafen zu. Vier liegen in Embryostellung auf der Seite, Emanuel auf dem Bauch, Christ auf dem Rücken. Arlette weckt Willy, Lotti Christ, ich kümmere mich um Emanuel. Ganz vorsichtig streichle ich ihm über den Kopf, flüstere ihm seinen Namen ins Ohr. Nichts. Ich streichle fester, flüstere: «Guten Morgen, mein Schatz.»
Emanuel dreht den Kopf zur anderen Seite, ansonsten passiert nichts. Also verstärke ich den Druck ein bisschen, flüstere, er müsse aufstehen. Ah, da haben wir es: Emanuel gähnt.
«Hey, Kleiner.»
Er ballt die Händchen zu Fäusten, zieht sie unter seine Brust, schläft weiter. Da Christ und Willy bereits aufgestanden sind, kann ich mich neben Emanuel legen. Ich streichle ihm über Nacken und Rücken bis zu seinen Füsschen hinunter und denke dabei an seine Mutter Noëlle und wie sehr sie darum gekämpft hatte, ihn nicht alleine lassen zu müssen.
Lotti erzählte mir, Emanuels Vater rufe alle paar Wochen aus dem Gefängnis an und sage ihr, allein die Tatsache, dass sein Sohn bei ihr auf ihn warte, erhalte ihn am Leben. Auch er ist positiv.
«Hey, mach vorwärts!»
Lotti steht vor mir. «Die Zeit rennt uns davon. Emanuel muss Punkt halb sieben zu seiner ersten Ration Medikamente kommen.»
Also intensiviere ich meine Weckbemühungen, indem ich den Siebenschläfer rüttle, worauf er sich auf alle viere stellt, sich wieder plumpsen lässt und weiterschläft. Ich nehme ihn auf, und selbst im Schlaf tut Emanuel das, was ihn so charakterisiert, er klammert sich fest, sucht eins zu werden mit dem Körper, der ihm nahe ist, und – wer hätte das gedacht – erwacht dabei. Strahlt mich an. Ich setze ihn auf den Tisch und halte ihm den Becher, in welchem eine Tablette Videx in Wasser aufgelöst worden ist, an den Mund. Emanuel trinkt, legt seine Hände um den Plastik, ich lasse los, er auch, der Becher fällt zu Boden, und der Inhalt ergiesst sich auf meine Jeans. Nach dem ersten Erschrecken lachen wir uns an. Also das Ganze von vorne.
Der Therapieplan sieht so aus:
6.30 Uhr: Kind wecken und ihm auf nüchternen Magen eine Tablette Videx geben.
7.00 Uhr: Zehn Milliliter Zerit-Emulsion und eine Tablette Viracept während des Frühstücks.
14.00 Uhr: Eine Tablette Viracept, dazu unbedingt etwas essen.
19.00 Uhr: Zehn Milliliter Zerit während des Abendessens.
Der Plan für die Mütter, denen Lotti mit ihrer Idee der Mütter-Patenschaften das Leben ermöglicht, sieht, abgesehen von den Dosen, gleich aus. Die Idee, dass Patinnen und Paten aus Europa sich verpflichten, einen kleinen, dafür regelmässigen Betrag einzuzahlen, damit die Kinder nicht zu Waisen werden, rettet zurzeit vierzig Müttern das Leben. Leider waren Emanuels und Christs Mütter zu krank, als dass sie noch in dieses Programm hätten aufgenommen werden können. Lotti versuchte dann, zumindest Christs Vater zu retten, der eines Tages vor der Tür stand. Er kam zu spät. Christ ist seit vier Monaten Vollwaise.
So einfach die Idee der Mütter-Patenschaften ist, so schwierig ist ihre Umsetzung. Viele Betroffene wollen sich nicht testen lassen. Auch hier gilt das Motto: Was ich nicht weiss, macht mich nicht heiss. Dies ist einer der Gründe, warum die Blutspenden so drastisch zurückgegangen sind. Lotti, die für ihre anämischen Patienten immer wieder Blutkonserven braucht, kommt inzwischen oft mit leeren Händen von der Blutbank nach Hause. Wer Blut spendet, wird automatisch getestet und läuft damit Gefahr, sein Todesurteil in Form von sieben Buchstaben auf einem seelenlosen Zettel präsentiert zu bekommen: Positiv.
Tatsache ist, dass Frauen mutiger sind als Männer. Die Mütter, die sich zu einem Test entscheiden und positiv sind, müssen vor Therapiebeginn oft Krankheiten auskurieren. Ist das gelungen, sollte die
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