Madame Lotti
gegangen?»
«Wer weiss, wer weiss?»
«Nie im Leben! Du hättest die nächstbeste Gelegenheit wahrgenommen, um neu zu dealen. Du hättest rebelliert. Und dafür mag ich dich so sehr.»
Nun, vielleicht hat Julien statt meiner mit Gott verhandelt, die beiden Kleinen sind – N-E-G-A-T-I-V!
Später, auf dem Nachtmarkt, erzählen wir Adelaide, die mehr im Stuhl liegt als sitzt – es sich aber partout nicht nehmen liess, mit von der Partie zu sein –, dass drei ihrer Zöglinge, die dank ihrer Überzeugungskraft nicht gestillt wurden, gesund sind. Und prompt sitzt sie kerzengerade im Stuhl. Stolz. Froh. Zufrieden.
Serviert wird afrikanisches Bier, Fanta, Coca-Cola. Dreissig Menschen prosten sich zu, geniessen es in vollen Zügen, Geladene zu sein. Ouattara organisiert, macht die Sitzordnung, saust zwischen Pouletstand und Restaurant hin und her, holt, bringt, lacht und übt dabei: «Good night». Immer wieder «Good night.»
«Gut machst du das!», lobe ich ihn.
César ist vom Slum Vridi-Canal hergekommen. Die umgerechnet fünfzig Rappen für das öffentliche Taxi habe ich ihm spendiert. Hätte ich dies nicht getan, wäre er nicht hier. Er hätte das Geld nie auftreiben können.
Véronique ist da, Monique und Hortense, Pierre, der Buchhalter, Solange, das Kindermädchen, Ange und Félix, die Pfleger, Monsieur Koné, die Vertretung von Monsieur Konaté, und YaYa – wo ist YaYa? Lotti weiss es.
«Er ist nicht hier und wird wohl auch nicht kommen. Ich habe heute einen Brief von ihm erhalten, in dem er mir mitteilt, er habe eine Stelle als Lastwagenchauffeur gefunden. Leider hatte er nicht den Mut, ihn mir selber zu überbringen, sonst hätte ich ihm gratulieren können.»
«Er hatte wohl Angst, du würdest sauer werden.»
«Ich werde es ihm schon noch sagen, dass ich ja wohl nicht so blöd bin, ihm den Lkw-Führerschein zu ermöglichen, wenn ich nicht wollte, dass er dann auch eine Stelle bekommt! Ich freue mich für ihn. Er ist zu jung, um jeden Tag mit dem Tod konfrontiert zu werden. Oder?»
Lotti hilft nicht nur Kranken und Sterbenden, sie gibt auch Hilfe zur Selbsthilfe. Den Frauen ermöglicht sie den Kauf von Marktständen, den Männern das Erwerben des Führerscheins. Der dabei abgeschlossene Vertrag sieht vor, dass das investierte Geld in kleinen Raten zurückkommt, damit neue solche Projekte unterstützt werden können.
Ouattara bringt das Poulet braisé. Zu viert essen wir von einem Teller, trinken Bier aus Flaschen, und ob all der Geselligkeit hätte ich beinahe Arlette und Monsieur Konaté vergessen. Als ich aufstehe und mich entschuldige, weil ich schnell ins Spital runterwolle, bietet Ouattara mir an, den Botengang für mich zu übernehmen. Ich lass ihn mir aber nicht nehmen. Packe zwei Flaschen Cola unter den Arm, damit ich die Hände für die Pouletschenkel frei habe, und überrasche die beiden, die die Festung halten, mit meinem Kommen sehr. Mehr noch, Monsieur Konaté ist heilfroh, dass ich da bin. Allerdings nicht wegen des Essens, sondern weil er sich bei Lotti telefonisch erkundigt hat, was für ein Medikament er Alimata geben könne, sie klage über starke Schmerzen. Und weil er nicht lesen kann, wies ihn Lotti an, mich zu bitten, Tramal aus der Apotheke zu holen. Bevor ich gehe, küsse ich Alimata auf die Stirn und wünsche Dieu-Donné, der sich samt seiner Infusion vor den Fernseher gehockt hat, eine gute Nacht. Seine Mutter hat sich neben ihn gelegt und schläft. Etwas, das die kleine Maeve nicht tut. Arlette versucht geduldig, sie in den Schlaf zu singen.
Auf dem Weg zurück zum Nachtmarkt stelle ich mir ein Leben ohne Buchstaben vor. Nie ein Buch lesen! Nie eine Liebeserklärung schreiben! Keinen Vertrag kontrollieren! Kein Rezept nachkochen! Keine Gebrauchsanweisung studieren! Keine Adresse notieren! Keinen Strassennamen erkennen! Nach letzten offiziellen Schätzungen ist etwa die Hälfte der Menschen in der Elfenbeinküste nicht alphabetisiert. Zweiundvierzig Prozent der Männer und sechsundfünfzig Prozent der Frauen sind Analphabeten.
Das tut der Ausgelassenheit auf dem Nachtmarkt allerdings nicht den geringsten Abbruch. Nein, es ist nicht laut und auch nicht überbordend, keiner tanzt auf den Tischen, keiner ist sturzhagelbetrunken. Beschwipst, doch, das schon. Ist ja auch schwierig, mit Biertrinken aufzuhören, wenn Ouattara die leeren Flaschen fleissig gegen volle austauscht. Nun, mein Budget wird es nicht sprengen. Der ganze Abend wird zu einem der schönsten Geschenke, die
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