Madame Lotti
zurückgelassene Kind, ein Bub, ist knappe drei Monate alt und positiv. Lotti fragt, ob er gestillt worden sei, was die Tante bejaht, und meint dann lakonisch: «Vielleicht ist es ein Glück, dass die Mutter ihn verliess, jetzt wird er nicht mehr gestillt, und wer weiss, ob wir dadurch in fünfzehn Monaten ein anderes Resultat bekommen.»
Sie klärt die Tante auf, dass sie keine Angst zu haben brauche, der Knabe stecke das Baby in ihrem Bauch nicht an. Lotti bittet sie, das Kind regelmässig zur Kontrolle vorbeizubringen, es unter keinen Umständen beschneiden zu lassen, damit sein Blut nicht den nächsten Buben anstecke, der mit demselben Instrument beschnitten würde. Und sie gibt ihr eine kleine Schere mit. Dies, weil es auch durch die hier verbreitete Gewohnheit, die Nägel der ganzen Familie mit ein und derselben Rasierklinge zu schneiden, immer wieder zu Neuansteckungen kommt. Bei Bouba zum Beispiel ist sich Lotti sicher, dass es nicht die Mutter war, die ihm das Virus übertrug, sondern ein solcher kleiner Unfall.
Draussen sitzen noch ungefähr zehn Personen. Marcels Bruder, der Lotti für die Pflege von Marcel bezahlen wollte, sehe ich nirgends. Kneift er? Vielleicht. Vielleicht hat er aber auch ganz einfach keine Zeit und kommt erst in einer Woche.
Der Nachmittag zieht sich hin, Julien muss auf jedem Krankenblatt das Wort «positiv» vermerken. Windmühlen! Lotti kämpft gegen Windmühlen. Oder doch nicht? Zwei Mütter warten mit ihren achtzehn Monate alten Kindern noch darauf, an die Reihe zu kommen. Ich drücke die Daumen, hoffe, dass sich das Virus bei den beiden Kindern abgebaut hat, und überlege, ob ich mit Gott einen Deal abschliessen soll. «Wenn diese beiden negativ sind, dann …», aber ich lasse es bleiben. Letztes Jahr wurden nur gerade fünf Kinder negativ, warum sollten es heute, an einem einzigen Tag, drei sein?
Später erzähle ich Lotti, ich hätte mit «dem da oben» fast einen Handel gemacht, was sie zu einem herzhaften Lachen hinreisst. Sie habe, sagt sie dann, vor kurzem auch gedealt: «Man brachte mir eine Frau mit einer geplatzten Eileiterschwangerschaft. Ihre Bauchhöhle war voller Blut und ihre Anämie schon so gross, dass sie nicht nur ganz fahl im Gesicht war, sondern auch schon apathisch. Ich war heilfroh, dass ich den neuen Krankenwagen hatte, und brachte sie mit Blaulicht und Martinshorn, so schnell ich konnte, ins nächstgelegene Spital. Da man dort seit Stunden keinen Strom hatte, gab es keine sterilen Instrumente und Tücher – eine Operation war ausgeschlossen. Also ab zum nächsten Spital. Dort sagte man mir, der Zustand der Frau sei viel zu instabil, als dass man jetzt noch operieren könne. Sie hatten Recht, ihr Hämoglobin betrug noch knappe zwei Gramm pro Deziliter. Normal wären zwischen elf und sechzehn gewesen. Aber ich wehrte mich. Es sei mir lieber, sie sterbe auf dem Operationstisch als hier im Gang. Als alles nichts half, schmollte ich wie ein kleines Kind, und als auch das nichts bewirkte – die Zeit lief uns davon –, meinte ich lakonisch: ‹Nun, wenn ihr das Geld nicht nötig habt, das ihr hier verdienen könntet…› Man operierte. Zwei Stunden später, es war sieben Uhr abends, kam sie aus dem Operationssaal. Mehr tot als lebendig, aber immerhin atmete sie noch. Ich ging nach Hause, telefonierte jede Stunde mit dem Spital, erkundigte mich nach ihrem Zustand. Es ging mir zu dieser Zeit nicht sehr gut, man boykottierte das Mütterheim, das ich bauen will, von allen Seiten, die Stromrechnung war enorm, und ein Journalist wollte einen Bericht über mich schreiben, hörte mir aber, wie ich sofort merkte, überhaupt nicht zu. Ich hatte das Gefühl, die ganze Welt habe sich gegen mich verschworen, und brauchte dringend ein Erfolgserlebnis. Aber was ich mir so sehr wünschte, trat nicht ein. Die Frau erholte sich nicht. Sie lebte zwar, aber sie kam nicht wieder zu sich. Auch noch nicht morgens um vier. Und da verhandelte ich: ‹Lieber Gott, wenn sie stirbt, dann habe ich nichts weiter getan, als ihr das Leben zu verlängern, und dir dabei ins Handwerk gepfuscht. Stirbt sie, zeigst du mir, dass mein Platz nicht in Adjouffou ist. Überlebt sie, weiss ich, dass du mich hier haben willst.›»
Lotti holt Luft, zieht die Pause in die Länge. Ihre Lachfalten werden ein klein wenig tiefer: «Drei Stunden später hatte ich, was ich mir so sehnlichst wünschte.»
«Aber», will ich wissen, «was, wenn sie gestorben wäre, wärest du tatsächlich
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