Madame Lotti
gesagt bekommen. Hier bin ich nützlich, ich kann etwas bewirken. Bei positiven Resultaten geben wir den Infizierten Sulfonamide ab, die sie vor Infektionen schützen, positive Mütter werden dazu angehalten, ihre Babys nicht zu stillen, was denen die Chance gibt, negativ zu werden, und wenn dieser Herr hier», er weist auf den jungen Mann, «wenn er negativ ist, dann bläue ich ihm ein, dass er ab sofort drei Möglichkeiten hat, um weiterhin so gesund zu bleiben.»
Dann schaut er seinen Patienten herausfordernd an, der seinen Blick standhaft erwidert und fragt: «Drei Möglichkeiten?»
«Ich werde dir eine Packung Kondome mitgeben, damit du nie vergisst, dich zu schützen. Nie! Verstehst du?»
Nicken.
«Eine andere Möglichkeit, gesund zu bleiben, ist die Enthaltsamkeit!»
Der junge Mann lächelt, fragt dann: «Und die dritte?»
«Gegenseitige Treue.»
Nicken. Zweimal. Julien steht auf, geht zum Teststreifen, den er vorhin zur Seite gelegt hat. Zwei Striche, erklärt er, seien das, was er jetzt nicht unbedingt sehen wolle, dann freut er sich: «Nur einer!»
Er wendet sich dem Mann zu, sagt ihm, was der, seinem Strahlen nach zu urteilen, längst begriffen hat: «Negativ!»
Bevor Julien ihn verabschiedet, redet er abermals ein ernstes Wort mit ihm und lässt dann eine Mutter eintreten, die ich sofort als die Frau erkenne, die mir Adelaide auf unserem Weg zurück von den Zwillingen vorgestellt hat. Es ist Angela, die grössere der beiden Mütter. Kaum ist sie im Labor, stürmt auch schon Lotti herein, begrüsst Julien, fragt die Mutter, wie es gehe, und palavert über Gott und die Welt. Fast bekomme ich das Gefühl, sie sei nervöser als die Mutter. Was nicht stimmt, wir sind alle nervös. Die Luft vibriert geradezu.
Der Kleine wird gestochen, schreit jämmerlich, wehrt sich mit Händen und Füssen, hat aber nicht den Hauch einer Chance gegen Juliens Routine. Auch Angela wartet im Zimmer auf das Resultat, diesmal, weil Julien von Lotti in eine Konversation verwickelt wird. Ich höre den beiden nicht zu, vergesse alles um mich herum, das schreiende Kind genauso wie den Umstand, dass ich schon längst etwas trinken wollte. All meine Sinne sind auf den Teststreifen gerichtet, ein Strich bedeutet Leben, zwei Striche will ich mir überhaupt nicht vorstellen. Letztes Jahr waren nur gerade fünf von gegen hundert getesteten Achtzehnmonatigen negativ. Fünf in zwölf Monaten! Die Chance, dass dieser hier das Resultat zeigt, das wir alle sehen wollen, stehen also bei null. Ich zwinge mich, nicht auf den Teststreifen zu starren, blicke nur ab und zu und möglichst beiläufig hin. Ist da was? Zwei Striche? Einer? Julien setzt seine Brille auf, stellt sich neben mich, erkennt anscheinend sofort, was sich auf dem Teststreifen erst schwach, dafür umso klarer in seinem Gesicht abzeichnet. Unsere Reaktion darauf und wohl vor allem die Freude der Mutter lässt Issa, so heisst ihr Sohn, von einer Sekunde zur anderen verstummen.
Die Euphorie hält leider nicht lange an. Der nächste Test ist positiv. Durchgeführt bei einer vierundzwanzigjährigen Frau, die mit dem vierten Kind schwanger ist. Der Vater des Kindes hat sie bereits verlassen. Von den zwei verschiedenen Vätern der anderen drei Kinder weiss sie nicht, wo sie sind. Die hier absolut selbstverständliche Promiskuität ist für die Ausbreitung des HI-Virus katastrophal.
Als Nächstes kommt wieder eine schwangere Frau, sie will allerdings nicht sich testen lassen, sondern das Baby ihres Bruders, dessen Mutter sich aus dem Staub gemacht hat. Man kann sich hier über vieles entrüsten. Darüber, dass Männer abhauen und Frau und Kind verlassen, als ginge sie ihr Nachwuchs überhaupt nichts an. Darüber, dass Mütter ihren eigenen Kindern davonlaufen. Lotti hat mich aber gelehrt, nicht zu urteilen, sondern zu verstehen. Oder dies zumindest zu versuchen. Was anderes tun als abhauen, wenn das eigene Versagen, die Familie zu ernähren, einen zu erdrücken droht? Was anderes tun als flüchten, wenn man die Enge in einer vier Quadratmeter grossen Hütte und die permanente Nähe von Verwandten und deren Kindern nicht mehr erträgt?
Jede Geschichte hat zwei Seiten. Und während ich dazu neige, die zu sehen, die sich mir präsentiert, dreht Lotti das ganze Gefüge regelmässig und stoisch um hundertachtzig Grad und beweist damit, dass sie nicht hier ist, um zu richten, sondern um einiges zu richten. Auch das Wort «richten» hat zwei Seiten.
Das von der Mutter
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