Madame Zhou und der Fahrradfriseur
schließlich in Vorbereitung der Olympischen Spiele der Bau von Luxustoilettenkabinen mit Sitzklo, Brille und Parfümzerstäuber. (Schon 10 Jahre zuvor hatte der damalige Staatspräsident Jiang Zemin geklagt: »Wie kann es sein, dass China Satelliten bauen kann, aber keine Toiletten, die nicht stinken?«) Doch diese Luxussitzklos erscheinen manchem Chinesen, der ein Leben lang über der Toilette gehockt hat, derart widernatürlich, dass Verhaltensschilder angebracht werden mussten. »Darauf sind 6 Strichmännchenabgebildet, die in verschiedenen Varianten die Toiletten benutzen: sitzend, stehend hineinpinkelnd, die gleiche Variante noch mal, diesmal mit dem Deckel auf der Brille, aus der Schüssel trinkend, auf der Schüssel hockend und wie ein urinierender Hund davor kniend. Bis auf die Sitzpositionen sind alle anderen rot durchgestrichen.« Und Anja Obst weiß, dass in chinesischen Linienflugzeugen manchmal Fußabtritte von schmutzigen Schuhen auf den Brillen zu sehen sind. Alte Gewohnheiten können sehr hartnäckig sein.
Die Zuhörer kennen auch Peters traumatische Erlebnisse mit Strom und Gas. Die müssen in China meist im Voraus bezahlt werden. Eine Chipkarte für den Zähler wird bei Bank oder Post gegen Geld aufgeladen, und wenn die Karte leer ist, wird es unweigerlich – und falls Bank und Post abends schon geschlossen haben, bis zum nächsten Morgen – zappenduster.
Fast alle im Saal finden ihre eigenen Erfahrungen wieder. Für mich sind die beschriebenen Details »die theoretischen Krücken, mit denen man durch die praktische Realität eines fremden Landes humpelt«, wie ein chinesischer Dichter, den ich 5 Tage später treffe, formulieren wird.
Nach einer Viertelstunde bringt ein Techniker das Mikrofon. Anja Obst liest nun noch sicherer und souveräner. Sie weiß, wovon sie spricht. Sie hat Wirtschaftssinologie studiert, lebt seit 1998 in Peking, arbeitete unter anderem für die ARD und den »Focus«. Und sie hat mit dem »Fettnäpfchenführer« ein Buch verfasst, das nicht nur den Europäern die unverständlichen Eigenheiten des chinesischen Alltags zu erklären versucht, sondern das die soziologischen, politischen und wirtschaftlichen Probleme des Riesenlandes sehr genau dokumentiert.
Für Klaus und mich ist die Lesung außerdem der passende Abschlusskommentar unseres Besuches in der Wälzlagerfabrik Xingtai. Nur das Geschäftsessen dort war mit zwei Schnäpsen wohl nicht repräsentativ, denn »50 Milliarden Euro, ein Drittel des landesweiten Gastronomieumsatzes,werden jährlich für Geschäftsessen in China ausgegeben, viele davon durch Steuergelder finanziert. Dabei rinnen 5 Milliarden Liter Reisschnaps die Kehlen hinunter. Ohne Alkohol sind Geschäftsabschlüsse in China schwer zu bewerkstelligen. Einige chinesische Städte haben die luxuriösen Geschäftsessen jetzt zur Mittagszeit verboten.«
Dass nach dem Kennenlern-Essen in Xingtai kein Geschäftsabschluss zustande gekommen ist, lag aber nicht am fehlenden Alkohol. Und Klaus hat bei dem Besuch – wenn man die Ratschläge der Autorin wörtlich nimmt – durchaus alles richtig gemacht.
»Bleiben Sie offen. Reagieren Sie auf Ihr Gegenüber. Manchmal überrascht ein Chinese Sie mit unerwarteten Ähnlichkeiten, manchmal mit widersprüchlichem Verhalten. Nehmen Sie es, wie es kommt, passen Sie sich an und übertragen Sie nicht Ihre Vorstellungen von Verhandlungen auf dieses unbekannte Wesen. Beide Seiten müssen sich kennen und verstehen lernen. Versuchen Sie nicht, zu einem schnellen Ergebnis zu kommen. Nehmen Sie sich Zeit, gehen Sie in kleinen Schritten vor […].
Vermeiden Sie dabei direkte Formulierungen wie ›Sie sollten …‹ oder ›Sie müssen …‹, und achten Sie darauf, dass der Partner nicht das Gesicht verliert […]. Bei den Verhandlungen kommt es darauf an, dass der chinesische Partner das Gefühl hat, nicht überrumpelt oder in die Ecke gedrängt zu werden. Durch geschicktes Manövrieren können Sie ihn dahin bringen, genau das vorzuschlagen, was Sie im Kopf haben. Beiden ist gedient: Der Chinese fühlt sich als Sieger, und Sie bekommen, was sie wollen.«
Monika lässt für mich ein Buch signieren. In zierlicher, fast kindlicher Schrift unterschreibt die Autorin: »Anja Obst, Bejing, Nov. 2010«
Es ist inzwischen 21.00 Uhr, und wir finden in der Nähe kein kleines chinesisches Restaurant, in dem noch Speisen serviertwerden. Die disziplinierten Chinesen würden die Essenszeiten minutengenau einhalten, sagt Klaus.
»Punkt
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