Madame Zhou und der Fahrradfriseur
ich Gold auf Weiß in der Hand halte: Dieser große Junge ist Direktor Xin.
Der 26-Jährige, dem der Vater alle Eigentumsrechte an der Firma abgetreten hat, freut sich, wie er sagt, über unseren Besuch und dass wir uns kennenlernen. Während er isst und mit uns spricht, greift er bestimmt ein Dutzend Mal zum Telefon. Er führt anscheinend, man merkt es an seinem angespannten Gesicht, sehr ernsthafte Gespräche.
Wieder im Betrieb angekommen, entschuldigt sich Herr Xin mit einer unaufschiebbaren Arbeit und verschwindet in seinem Büro. Uns überreicht Herr Fu Deqiang neue, saubere Handschuhe, denn die anderen hatten wir ordentlich zurückgelegt. Dann holt er aus einem Schrank ein Pendelrollenlager und zeigt uns das schwere, nach allen Seiten drehbare in Deutschland hergestellte Produkt. Er lobt es mit blumigen Worten und fragt Klaus schließlich sehr höflich, ob sein Betrieb in Deutschland dieses hochwertige Pendelrollenlager mit ihnen gemeinsam in China nachbauen würde.
Klaus lehnt genauso höflich ab.
Als alle ihre Handschuhe zurücklegen, stecke ich meine klammheimlich ein. Weil ich mir in Deutschland nicht vorstellen konnte, dass es in Peking so bitterkalt sein wird, hatte ich mir keine Handschuhe mitgenommen.
Der Marketingchef bittet den Direktor zum Abschiedsfoto. Ich fotografiere die fünf vor dem Verwaltungsgebäude.
Am Auto zieht Klaus die Anzugjacke aus, bindet den Schlips abundverstautalleszusammen mit dem Laptop im Kofferraum. Auf der Nebenstraße staut sich schon wieder der Verkehr. Arbeiter schaufeln den getrockneten Mais auf einen Hänger.
»Hoffentlich hatten sie eine gute Ernte«, bemerkt Klaus.
Während der Heimfahrt spricht er wenig, aber wenn, wundert er sich über den 26-jährigen Direktor, Herrn Xin. Was ich während des Essens vor allem als störende Telefonate wahrgenommen hatte, waren in der Tat wichtige Aufträge für den Betrieb und Kaufabsprachen.
»Darunter bestimmt zehn Bestellungen für Wälzlager. Und dieser Herr Xin hatte, ohne auf ein Papier zu schauen, alle gewünschten Größen, die verschiedenen Fabrikate und die Anzahl der noch im Lager vorhandenen Wälzlager, einschließlich der ausländischen, im Kopf und besiegelte den Kauf schon während des Essens.«
Ich frage ihn, ob er mit dem Direktor auch über einen Kaufvertrag gesprochen hat.
Er schüttelt den Kopf. »Wir haben zusammen gegessen und uns kennengelernt. Ich weiß jetzt, ob ich mit dem Betrieb weiterverhandeln kann oder nicht. Das ist doch viel. Mit deutscher Ungeduld kommst du in China nicht weit.«
Und er überholt rechts auf der Standspur. Jedes Mal, bevor er Vollgas gibt, signalisiere ich ihm, ob die Standspur frei ist. Oder ob sie mit Schaufel, Besen und Schubkarre bewaffnete Frauen in schwarzen Jacken und mit klobigen Schuhen kehren wollen.
Wir kommen rechtzeitig nach Peking zurück, um am Abend im Auditorium der Deutschen Schule Anja Obst bei ihrer Buchpremiere des »Fettnäpfchenführers China« 1 zu erleben.
Fünfzig Leute sitzen in dem großen Hörsaal, dessen Reihen so steil ansteigen, dass sich die oberste bestimmt 8 Meter über dem Rednerpult der Autorin befindet. Ich bedauere die schmächtige Frau nicht nur, weil sie zum ersten Mal aus ihrem ersten Buch vor Publikum vorlesen soll, sondern weil sie bis zur letzten Reihe hinauf schreien muss, denn die Organisatoren haben vergessen, ein Mikrofon aufzustellen. Sie schüttelt die langen schwarzen Haare zur Seite und versucht es ohne Mikrofon, schaut dann aber mit ihren eigentlich sehr lebendigen Augen traurig ins Publikum.
Das bräuchte sie nicht, denn es ist mucksmäuschenstill. Und das Lachen zwischendurch beweist, dass man sie – wenn auch mit Mühe – selbst in der obersten Reihe noch hören kann. Alle verstehen Anja Obst, ohne dass sie jedes Wort verstehen müssen. Denn die Geschichten ihres Helden Peter, der zuvor noch nie in China war, dann aber ein sechsmonatiges Austauschstudium in Peking absolviert und sich durch die Hindernisse und ungewohnten Eigenheiten des chinesischen Alltags kämpfen muss, das sind die Geschichten der meisten, die im Auditorium sitzen. Sie kamen vor zwei, drei oder zehn Jahren nach China. Und sie kennen längst die öffentlichen Toiletten, die Anja Obst beschreibt. Loch an Loch im Zementboden mit Fußabtritt, aber ohne Wasser. Loch an Loch mit Fußabtritt, Zwischenwänden und Wasser – ein Kommunikationszentrum, in dem man davor, danach oder dabei Auskunft über Woher, Wohin und Wohlbefinden gibt. Und
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