Madame Zhou und der Fahrradfriseur
12 Uhr fällt in jedem großen und kleinen chinesischen Unternehmen der Hammer, und die Angestellten – zumindest die, die Geld dafür ausgeben können – müssen fast zwanghaft an der Straße oder in einer Garküche eine Kleinigkeit essen. Am Abend beginnt die Essenszeremonie in chinesischen Restaurants um 18.00 Uhr und endet gegen 21.00 Uhr.«
Weil wir nicht lange suchen wollen und ich, »um Peking kennenzulernen, noch viele Restaurants besuchen soll«, schlägt Monika vor, in das orientalische »1001 Nacht« zu gehen. Die chinesische Bedienerin serviert den bestellten grünen Tee, indem sie heißes Wasser und einen »Lipton«-Teebeutel auf den Tisch stellt. Danach bringt sie Hammel mit Bohnen für 6,50 Euro und Sardinen auf Pommes frites für 7,50 Euro. Ich, ein Fischliebhaber und ein immer aufessendes Nachkriegskind (!), lasse die Sardinen, nachdem ich mir die Hälfte hineingezwungen habe, stehen.
Wahrscheinlich kochen Chinesen nur chinesisch gut.
Und außerdem ist für die Gäste im »1001 Nacht« nicht das Essen, sondern die Ablenkung davon das Wichtigste. Zu sehr lauter Musik lässt eine Bauchtänzerin ihre schmalen Hüften, die nicht sehr großen Brüste und einen muskulösen Hintern kreisen. Für ein 1001-Nacht-Märchen fehlt ihr die orientalische Figur. Und in der Pause spricht die mit original Glitzer behangene Bauchtänzerin mit ihrer Kollegin Russisch. (Als ich die mir vertraute Sprache höre, ahne ich noch nicht, dass ich am nächsten Tag auch Russisch reden werde.)
Bei der morgendlichen Fahrt in die Stadt zeigt Klaus mir einen nur zwanzig Gehminuten von seinem Büro entfernten Park. »Hier regenerieren sich die Chinesen von dem Stress der Großstadt. Vor allem Ältere wie du!«
Und vielleicht sollte auch ich mich vor meiner Reise nachTai’an und Jinan in diesem Park von den ersten Tagen in Peking erholen.
Er lächelt, und ich widerspreche nicht.
Auf dem Weg zum Park muss ich, um die vierspurigen, sehr breiten Autostraßen zu queren, über Brücken und durch Unterführungen laufen. In den Unterführungen liegen Plüschtiere, gebackene Fladen, Bücher, Ketten und Ringe, Nägel, Mandarinen, Naschzeug und Wasserpistolen auf bunten Seidenstoffen, Decken und ausgebreiteten Zeitungen. Eine Frau wärmt ihre Ware – einen possierlichen Welpen, den sie den Vorbeilaufenden für umgerechnet 1 Euro anbietet – unter ihrem Mantel. Sie, die wahrscheinlich nicht täglich einen Hund verkauft, steht allein. Die übrigen Frauen warten nicht still und stumm hinter ihren ausgebreiteten Schätzen, sondern vertreiben sich die Zeit mit gemeinsamem Schwatzen, Lachen und Singen. Die meisten drängeln sich um einen auf grobem Leinen sitzenden Bettler. Neben ihm liegen zwei Krücken und eine reichlich mit Yuan-Scheinen gefüllte Pelzmütze.
Aus der Unterführung kommend, gehe ich auf einer langen Brücke über den dritten Ring. In der Ferne ist der Park zu erkennen: eine schmale, wahrscheinlich nicht einmal hundert Meter breite, aber mindestens einen Kilometer lange von der Flut der Autos umströmte grüne Insel.
Ich will im Park spazieren gehen, mich auf eine Bank setzen und in aller Ruhe ein Buch mit weisen Sprüchen des Konfuzius lesen. Doch statt zu lesen, staune ich wie als Kind, wenn der Rummel in unserem Dorf Station gemacht hat. Dort gab es ein für mein damaliges Empfinden riesengroßes Zelt. »Die Wunder der Welt« stand über der Eingangstür, die so niedrig war, dass man sich beim Hineingehen selbst als Kind bücken musste. Innen konnte man sich für zwanzig Pfennige ausgestopfte Wölfe, lebensgroße japanische Kriegerpuppen, aus Pappmaché geformte Kamele, Fotos von amerikanischenStraßenkreuzern, unechte Palmen, an denen echte Kokosnüsse hingen, Gulliver und Haremsfrauen anschauen.
60 Jahre später steh ich in diesem chinesischen Park plötzlich wieder ungläubig vor »Wundern der Welt«: zuerst vor einem zum »Fischgeschäft« umgebauten Fahrrad. In bis zum Rand mit Wasser gefüllten großen Aquarien schwimmen Zierfische, Muscheln, Schnecken und Wasserpflanzen. Daneben versuchen 5 Frauen, sich einen kleinen Federball mit den Füßen zuzuspielen, ohne dass er den Boden berührt. Und Männer in schlabberigen weiten Trainingshosen gehen singend, ohne sich umzuschauen und ohne an Hindernisse zu stoßen, sehr schnell rückwärts. Und ein Mann umarmt den Stamm einer Zypresse und atmet an seiner Rinde wie an der Haut einer Frau. Und ein Fahrradreparateur sucht in einer Schüssel mit Wasser, an welcher
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