Made in Germany
Marzipan!
Weihnachten war es besonders schlimm für uns Kinder: Überall in den Fenstern der anderen Familien sahen wir Lichterketten und Weihnachtsbäume! Die Menschen kamen schwer bepackt mit Unmengen von Geschenken von ihren Weihnachtsfeiern! Gegenüber brannte täglich irgendein Wohnzimmer aus! In den Straßen roch es nach Zimtsternen! Aus jedem Kinderzimmer erklang vielstimmig „Stille Nacht, heilige Nacht”. Im Fernsehen liefen völlig altmodische, todlangweilige tschechische Märchenfilme!
Und Familie Yanar saß bei vollem, grellem Licht am ungeschmückten Küchentisch. Mein Bruder Erkan und ich versuchten, unserem Vater die neu erworbenen Kenntnisse aus dem Religionsunterricht nahezubringen und ihm die Geschichte von der Geburt Jesu zu erklären: Wir erzählten von Bethlehem, dem Engel, dem Stern, den drei heiligen Königen, vor allem aber natürlich von den Familienverhältnissen der Heiligen Familie. Mein Vater bemühte sich, die Zusammenhänge zu verstehen, aber er kam nicht weit: „Okay, kapiert, Arschkopf: Maria … Josef … und … wie hieß der Kleine noch?”
Wir gaben es irgendwann auf. Mein Vater hat nie so recht Begeisterung fürs Feiern gezeigt, also hatte ich auch nie einen Sinn dafür entwickelt. Als ich erwachsen wurde, hatte ich mich ein paar Jahre lang gefreut, an den Weihnachtstagen bei befreundeten deutschen Familien mitfeiern zu dürfen. Viele Rituale kannte ich bis
dahin gar nicht: die Weihnachtsgans, das Wichteln, die Streitereien …
2009 habe ich Weihnachten auf Hawaii verbracht: Allein, ohne Familie, ohne Schnee, ohne Glühwein. Bei 30 Grad im Schatten. Viele Menschen wünschen sich, dass für sie Weihnachten noch einmal so wäre wie früher. Auf Hawaii hat das bei mir geklappt: So wenig Weihnachtsstimmung hatte ich das letzte Mal als Kind!
Aber nicht nur die religiösen Feste wurden in unserer Familie vernachlässigt. Auch die Geburtstage waren alles andere als eine Freude. Kuchen und Kerzen gab es
nie. Geschenke auch nicht. Noch nicht mal eine Karte. Von großen Kindergeburtstagsfeiern ganz zu schweigen. Entweder scheiterte es an meinem Vater, oder es scheiterte am Geld. Oder an beidem, denn es war ja mein Vater, der das Geld nicht rausrückte!
Das ist für ein Kind nicht schön. Ich habe so viele Geburtstage ohne Freude hinter mich gebracht, dass ich heute, ohne zu lügen, sagen kann: Ich feiere bald meinen 20. Geburtstag. Ich hatte zwar schon fast 40 Geburtstage, gefeiert habe ich aber erst eine Handvoll!
Ein einziges Mal stand mein Vater an meinem Geburtstag morgens an meinem Bett. Er hatte eine große Plastiktüte in der Hand und weckte mich mit den Worten: „Glückwunsch, beklopptes Kind! Hier, Geschenk für dich!”
Ich war total gerührt und musste fast weinen: „Papa, ich … das ist für mich?”
Mein Papa wurde langsam ungeduldig: „Siehst du hier noch anderen Bekloppten? Für wen sonst?”
Ich konnte mein Glück kaum fassen: „Und in der Tüte ist mein Geschenk?”
„Nein – die Tüte ist das Geschenk!”
Mein Vater war ein solcher Feiermuffel, dass er noch nicht einmal den türkischen Nationalfeiertag begangen hat. Dabei interessierte ihn die Geschichte der Türkei sehr – er wollte nur nicht feiern. Aber er hat meinem Bruder und mir immer wieder die Geschichte der Türkei erzählt. Und die ist wirklich unterhaltsam – zumindest in der Version, die mein Vater uns erzählte:
Vor 2000 Jahren gab es da, wo es jetzt die Türkei gibt, noch gar keine Türkei. Es gab nur ein paar Griechen und Römer, die dort durch die Gegend latschten. Erst im Mittelalter, um das Jahr 1300 herum, hat sich dann ein Türke auf einen Berg gestellt, die Griechen und Römer streng angeguckt und gesagt: „Ihr kommt hier ned rein!”
Der Türke, der auf dem Berg stand, hieß Osman. Er gründete das Osmanische Reich. Das Osmanische Reich ist nach ihm benannt. Hätte er Murat geheißen, würde es das Muratische Reich sein. Und wenn es eine Frau gewesen wäre, das Aische-Reich. Das hätte historisch
aber keiner ernst genommen: „Ey, ich bin de reiche Scheich von de Aische-Reich.”
Zum Glück hieß Osman aber Osman, und so rief er das Osmanische Reich aus: „Hiermit gründe ich das Osmanische Reich!”
Aber einer rief: „Osman, wir sind nicht genug Leute für ein Reich. Wir sind nur siebzehn ...”
Und Osman sagte: „Wenn du nicht Fresse hältst, sind wir nur noch sechzehn!”
Aus 17 Mann wurde ein ganzes Volk. Das Osmanische Reich hat sich unglaublich schnell
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