Mademoiselle singt den Blues - mein Leben
natürliche Zurückhaltung hat wieder die Oberhand gewonnen.
Ich habe wohl eine kleine Rede gehalten an diesem Abend. Aber ich kann mich nicht mehr erinnern, was ich gesagt habe. Ich bin zu aufgewühlt, zu beeindruckt. Mir scheint nur, dass sie kurz war. Wahrscheinlich habe ich mich bedankt. Aber ich erinnere mich an nichts. Mich bei Maman bedankt? Ganz sicher.
Denn ich weiÃ: Ihr verdanke ich, dass ich hier stehe. Sie hat es für mich erträumt. Sie hat mich als Erste bewundert, sie war mein erster Fan, die Erste, die an mich glaubte, mehr als ich. Sie ist mehr als meine Mutter, sie ist mein guter Stern, mein Glück. Ich möchte so sehr, dass dieser Victoire ein Talisman ist, der sie mir noch ein bisschen am Leben hält. Man hat es uns gesagt. Wir haben es gesehen. Mit einem gestreuten Lymphdrüsenkrebs sind drei Jahre schon ein Sieg. Nur dass es keinen gibt. In einer unfairen Schlacht kann man nicht
siegen. Wenn man weiÃ, wer gewinnt, haben die Verlängerungen keinen Sinn. Der Gedanke, dass es jetzt so weit ist, dass das Ende, an das wir uns gewöhnen wollten, nun da ist, ist nicht zu bewältigen. Ich kann mich nicht damit abfinden. Ich flehe weiter: »Noch nicht, nicht gleich, nicht jetzt.« Für einen kleinen Nachschlag Zeit würde ich meine Seele verkaufen.
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Der Wonnemonat Mai im Jahr 1989 ist nicht besonders schön. Ãberall in der Natur üppiges Leben, die Leute freuen sich auf die Sonne, die Frauen zeigen ihre Beine, und die Männer schauen sie an. Allen geht es gut. AuÃer mir. AuÃer ihr, meiner Mutter, die stirbt. Und meinem Vater, der verzweifelt und sich in sein Schweigen zurückzieht. Er, der sonst so Gesprächige, sagt nichts mehr. Er hat seine Jovialität verloren und macht ein trauriges, verdrossenes Gesicht. Auch er kann es nicht hinnehmen. Joseph ist nicht bereit. Niemand ist bereit. Das ist man nie. Maman aber weià es. Ihr Körper, der nicht mehr funktioniert, schreit ihr zu, dass sie gehen muss. Sie hört den Ruf. Und verabschiedet sich auf dem Bahnsteig.
Cyril ist da, an ihrem Bett, und hält ihr die Hand. Als wolle er ihr höflich beim Einsteigen helfen. »Jetzt kann ich mich nicht mehr um meine Tochter kümmern. Nun bist du an der Reihe. Ich vertraue sie dir an«, sagt sie. Er verspricht es ihr, er übernimmt die schwere, schöne Verantwortung.
Am Dienstag, dem 16. Mai, verlässt uns Maman.
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Sie ist nicht mehr da, und dennoch glaube ich sie zu hören oder zu sehen. Ich kann ihre Gegenwart fast spüren. Wir haben sie begraben, aber das war nicht sie in dem Sarg. Das ist nicht möglich. Sie ist zu sehr da, ich spreche in der Gegenwart
von ihr. Einige Monate vergehen zwischen Zorn und Verweigerung, dann stürze ich mich in ein ruheloses Leben. Ich fülle mein Leben, um dem Schmerz zu entfliehen, aber auch, damit Maman da oben stolz auf mich ist.
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Eine erste Tournee, um auf andere Gedanken zu kommen, an Orten zu sein, an denen mich nichts an Maman erinnern kann, auf neutralem, jungfräulichem Boden. Anderswo, um mir einbilden zu können, ich sei in einer anderen, einer angehaltenen Zeit zwischen Leugnen und Hinnahme. Ich muss mich vom Leid abkoppeln, etwas anderes erleben als in den vergangenen Monaten. Ich entscheide mich für die Flucht. Ich muss gehen, meinen Rettern entgegengehen, deren Liebe meinen Schmerz verdrängen wird  â meinem Publikum. Wenn ich mich auf der Bühne berausche, Blut und Wasser schwitze, werde ich weniger weinen. Wenn ich auf der Bühne Liebe gebe und empfange, werde ich ihre Abwesenheit weniger spüren  â ihr Fehlen.
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Die russische Puppe
Der Vorhang geht auf, ich lasse meinen Schmerz hinter mir.
Vor mir liegt die Olimpijski-Arena. Es ist der 19. Juni 1990, wir sind in Moskau. Der Hitzedunst, der über der Stadt lagerte, hat sich langsam aufgelöst, und eine dichte Menge füllt das Stadion. Es ist voll, aber nicht brechend voll. Hier ist das Publikum unter Kontrolle, es benimmt sich gesittet, rührt sich nicht. Heute Abend sind es wieder sechzehntausend. Wir sind im gröÃten Land der Welt. Die Zahl erschreckt mich nicht, im Gegenteil. Die Bühne ist der letzte Ort, an dem ich Angst habe. Ich mache mir die Dinge nicht mehr bewusst. Hier bin ich jemand anderes. Hier bin ich draufgängerisch, positiv, selbstsicher. Ich bin anderswo, abgekoppelt, gewappnet. Die anderen, meine Tourneebegleiter, sind sich der
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