Mademoiselle singt den Blues - mein Leben
habe immer geglaubt, dass es zu lange dauerte bis zur entscheidenden Diagnose. Er freut sich, mich zu sehen, er lebt ein wenig auf. An seinem Bett sehe ich die ganze Familie wieder; wir verhätscheln ihn und versuchen, ihm Mut zu machen. Denn eigentlich ist es nicht die Prothese, die er nicht mehr verträgt, sondern das Leben. Papa ist es leid. Er ist müde und hat Schmerzen. Die Jahre in der Zeche haben seinen Körper verschlissen, die Jahre ohne Maman sein Herz.
Ich habe die Zeche einmal besucht, mit Cyril, wegen eines Fototermins. Wir betraten diesen höllischen Lastenaufzug
und sanken dann langsam in eine Palette von Schwarztönen. Zunächst waren sie hell, dann dunkel und glänzend. Dieser immer dunklere, sich immer weiter verengende Raum ist beängstigend. Weiter nach unten fahren wir übrigens nicht, ich habe meinen Vater schon verstanden.
In seinem tristen Zimmer erzähle ich ihm Geschichten, um ihn abzulenken, ich versuche, ihn zum Lachen zu bringen.
Er lächelt und sagt dann liebevoll: »Immerhin habe ich dir schöne Augen hinterlassen!«
Ich spüre, dass dies sein letzter Satz ist, sein letzter für mich. Und ich spüre, als ich ihn an diesem Abend verlasse, dass ich ihn wirklich verlasse, nicht für die Nacht, sondern für immer, für eine lange, eine sehr lange Nacht.
Am Samstag, dem 7. Juni, geht Papa von uns.
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Ich gehe über den Friedhofsweg und versuche, Papa lebend in mir zu bewahren. Lächelnd, bebend vor Leben, und nicht krank in seinem Bett. Ich erinnere mich. Sein Freudestrahlen an seinem Geburtstag vor vier Jahren. Ich hatte ihn gefragt, was er sich zum Fünfundsechzigsten wünsche. Dabei dachte ich an eine Reise. Ich stellte mir vor, dass er mit einem Freund irgendeinen kleinen Winkel der Erde erkunden würde. Für ihn, dessen Horizont sich auf die Flözwände und die Schlote von Stiring-Wendel beschränkt hatte, erträumte ich mir fremde Welten und exotische Gegenden, die ihm Freude machen sollten. Da kannte ich ihn schlecht, dennoch war ich nicht überrascht über seine Reaktion. Als hätte ich immer noch nicht begriffen, dass sein Leben ihm so recht war, dass ihm das vollkommen genügte, seine Zeche, seine Kumpel, die Feste im Viertel, seine Familie. AuÃerdem fehlte ihm meine Mutter. Und deshalb hatte er auf gar nichts Lust.
Als ich ihm meine Geschenkidee verkünde, sieht er mich mit seinen durchscheinenden blauen Augen an, die schlieÃlich schmal werden, als er zu lachen beginnt. »WeiÃt du, was mir wirklich Freude machen würde? Wenn du mit mir einen in der Kneipe an der Ecke trinken würdest.«
Ich erwidere sein Lachen liebevoll und antworte: »Okay, Papa, aber dann küsse ich nicht alle ab.« Er nickt. Aus seinem Wunsch lese ich seinen ganzen Vaterstolz.
Ich komme in der Bar an und vermute schon, dass ganz Stiring informiert wurde. Die Kneipe ist schwarz vor Menschen. In dieser Menge von Stammgästen, Neugierigen und Alteingesessenen, die mich noch als Kind kannten, halte ich nach Papa Ausschau. Er nimmt mich in die Arme, nennt mich ma chérie , zeigt dann auf mich und ruft: »Das ist meine Tochter, ihr könnt sie küssen, das ist Patricia Kaas, sie ist toll.«
Die Leute umdrängen uns und zerquetschen mich beinahe. Ganz anders als vereinbart muss ich nun als eine Art Küsschen-Maschine arbeiten. Als ich nach zwei Stunden endlich gehe, habe ich auf den Wangen Speichelproben der ganzen Stadt. Und Papa ist glücklich. Er genieÃt den Augenblick und feiert seine Vaterschaft mit ein paar Extragläschen.
Und dann folgt in der Kette meiner Erinnerungen wieder sein unglückliches Gesicht, das des Mannes ohne seine Frau, des Bergmanns ohne seine Zeche. Er hatte sich verändert. Er langweilte sich. Er war immer noch so umgänglich wie früher, aber im Privaten war seine natürliche gute Laune stumpf geworden. Er war oft müde, klagte, war brummig. Jedes Jahr nahm ich ihn mit in die Sommerferien. Ich mietete irgendwo, auf Ibiza oder Korsika, ein Haus, lud Freunde ein und flog mit ihm hin.
Jedes Mal stellte ich mir vor, er würde sich freuen, an
einem Ort zu sein, den er noch nicht kannte, noch dazu unter komfortablen Umständen und gemeinsam mit seiner Tochter. Und jedes Mal musste ich sehen, dass er eben nicht im siebten Himmel war. Im Gegenteil. Es war ihm schnurz, auf einer schönen Insel zu sein, wo es sonnig und warm war, wo die Häuser
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