Mademoiselle singt den Blues - mein Leben
blendend weià waren und wo eine geheimnisvolle buschige und trockene Vegetation das Blau des Meeres nachzeichnete. Es interessierte ihn nicht. Schlimmer noch, er hinderte auch noch die anderen daran, es zu genieÃen! Er, für den paradoxerweise die einfachen Dinge die besten waren, machte sich ein Vergnügen daraus, mir alles zu verkomplizieren. Obwohl wir im Urlaub waren, um uns zu erholen, das Nichtstun, den Schlaf, die schönen Augenblicke zu genieÃen, war er der Ansicht, man müsse einen bestimmten Rhythmus einhalten. Auch den der Mahlzeiten: 9 Uhr Frühstück, 12 Uhr Mittagessen, 15 Uhr Aperitif, Punkt 20 Uhr Abendessen. Wurde davon abgewichen, dann trommelte er an meine Tür und rief: »Gibt es in diesem Haus denn gar nichts zu essen?«
Wenn der Tisch dann gedeckt, die Speisen angerichtet und das Lächeln wieder im Gesicht war, setzte er sich. Zufrieden. Aber er aà so gut wie nichts, er pickte nur daran herum. Das machte mir nicht nur Sorgen, es ging mir auch auf die Nerven. Ich sagte dann: »Papa, du nimmst mich auf den Arm! Vor zehn Minuten hattest du noch einen Mordshunger! Wir haben uns beeilt, damit du nicht zu lange warten musstest, und jetzt rührst du nichts an? Du machst hoffentlich Witze!« Nein, er machte keine Witze. Essen war einfach nicht sein Ding. Er verlangte seine Mahlzeiten aus Prinzip, um seinen Tag zu strukturieren, weil es ihn beruhigte und weil er so vor allem seine Rolle als Familienvorstand deutlich machen
konnte. Er hasste es immer noch, sein Gebiss zu tragen, und wenn er es nicht trug, fiel ihm das Essen schwer. Ich kämpfte mit ihm, damit er das Ding einsetzte, aber er weigerte sich hartnäckig. Papa war starrköpfig geworden. So hatte er ja auch das Bergwerk überlebt. Er lieà sich nichts gefallen. Er schimpfte wegen jeder Kleinigkeit. Als Kind war ich die Einzige, die ihn zur Vernunft bringen konnte. Das Einzige seiner Kinder, das keine Angst vor ihm hatte. Wenn er zum Beispiel bei den FuÃballspielen, bei denen er immer auÃer sich geriet, den Fernseher so laut gestellt hatte, dass Carine, die als Lageristin sehr früh aufstehen musste, nicht schlafen konnte oder manchmal sogar die Nachbarn ihr eigenes Wort nicht verstanden, dann baute ich mich vor ihm auf und stemmte die Fäuste in die Hüften. Zwar nannte er mich dann seinen »Gendarm«, aber er senkte die Stimme und drehte den Ton leiser.
Doch in letzter Zeit hatte ich keinen Einfluss mehr auf ihn. Ich wiederholte mich immer nur, und es kam nichts dabei heraus. Als ich sah, dass sein Körper überall klapprig zu werden begann, gab ich auf, ging ich ihm nicht mehr auf die Nerven. Es war nutzlos. Papa war erschöpft. Irgendwann erlieà ich es ihm, seine Kräfte gegen mich zu mobilisieren. Er war Jahrgang 1927 und erst neunundsechzig, aber er wirkte viel älter. Bergleute sterben früh. Papa gab auf. Immer weiter kämpfen, wo man es doch schon immer tun musste ⦠Die Zeche hat ihn eingeholt, das Dunkel gewinnt am Ende immer. In dem Altenheim, in dem er lebte, bevor er ins Krankenhaus kam, wollte er ohnehin nicht alt werden. Es war deprimierend. Wie das Alter überhaupt. Vor allem, wenn man ein Krieger des Schattens war, wenn man seine Stärke und seinen Mut bewiesen hatte. Und von diesen Werten, seit der Körper nicht mehr mitspielt, nur noch die sehnsuchtsvolle Erinnerung hat.
Â
Jetzt bin ich Waise. Vollwaise. Ich habe Mutter und Vater verloren. Ich bin noch nicht ganz dreiÃig. Heute beweine ich meinen Vater, und ich habe noch nicht aufgehört, meine Mutter zu beweinen. Der Schmerz über Papas Tod erfüllt mich, doch jetzt, wo er mir vertraut ist, ertrage ich ihn leichter. Mit der Trauer habe ich innigen Umgang, es gelingt mir nicht, die Trauer um Maman zu überwinden, ich versuche die Liebe zu betrauern, und jetzt trauere ich um meinen Vater. Ich erlebe seinen Tod wie den Abgang des Clowns, das Ende der Pause, das Begräbnis der Freude. Papa war der Witzige, der Lebhafte, die Pirouette nach den Tränen. Jetzt muss ich ohne ihn auskommen. Andere Mittel finden, mich wie eine Erwachsene durchbeiÃen, um mein Lachen wiederzufinden.
Als ich vor seinem Grab stehen bleibe, denke ich, dass zehn Jahre Leid hinter mir liegen. Ich möchte, indem ich Papa beerdige, das Schicksal für die nächsten zehn Jahre beschwören. Ich bin müde von all dem Weinen. Mamans Teddybär begleitet mich überallhin, und sein
Weitere Kostenlose Bücher