Mademoiselle singt den Blues - mein Leben
aufzuerlegen, ihn weiterzutreiben, auch wenn er nicht mehr kann. An einem Abend in Avignon habe ich das Konzert mit blutendem Knie zu Ende gesungen. Dabei hatte ich mir richtig wehgetan. Als ich mir meinen Weg durch die dunklen Kulissen suchte, stieà ich heftig gegen einen Teil des Bühnenbilds, irgend so ein Riesenstück Holz. Auf der Bühne unterdrückte ich den Schmerz bis zum Ende der Show. Ich bin in der Lage, Dinge, die mich überfallen, zurückzudrängen, ich habe keine Angst vor körperlichem Schmerz. Und ich kann meine Emotionen im Zaum halten. Ich biete ihnen die Stirn, ich singe.
An einem anderen Abend, in Douai, stürzte ich, wahrscheinlich, weil ich von der Tournee so erschöpft war, dass mein Wahrnehmungsvermögen nicht mehr richtig funktionierte. Ich hatte den Abstand zum Publikum und die Bühnentiefe falsch eingeschätzt. Ich ging zu weit nach vorn und verschwand im Graben, sodass nur noch meine Musiker auf der Bühne waren! Allgemeiner Schrecken.
Im Verlauf dieser dritten Tournee trete ich zum ersten Mal,
und zwar an drei Abenden, im Sportpalast Bercy auf. Ich fühle mich ganz klein auf der Bühne dieses gröÃten Veranstaltungssaals von Paris, und es bedeutet mir etwas, eine Art Weihe. Wie auch sonst, wenn ich in Paris singe, nutze ich die Gelegenheit und lade die ganze Sippe Kaas ein, meine Schwester und meine Brüder mit ihren jeweiligen Familien. Wenn ich nicht allzu weit entfernt von Lothringen auftrete, schaffen sie es immer irgendwie zu kommen. Gute Gelegenheiten für ein Familientreffen. Diese Reise nach Paris nun habe ich organisiert. Sie sind stolz, mich in einem Saal für elftausend Personen singen zu sehen, und freuen sich über zwei Tage Paris. In meiner Familie ist die Sicht der anderen wichtig, der Spiegel, den uns die Freunde, die Bekannten und auch die Fremden vorhalten. Maman war dafür empfänglich, Papa auch. Erst die anderen geben unserem Erfolg Gültigkeit. Meinem Vater ermöglichte es die Bewunderung seiner Freunde aus dem Ort, sich selbst zu lieben. Ruf und Mythos zählen mehr als die Wirklichkeit. Maman wusste, dass ich Talent habe, aber sie musste es auch aus dem Mund von anderen hören. Papa wusste, dass er der Vater einer Berühmtheit war. Auch für mich ist die Sicht der anderen wesentlich. Manchmal zu wesentlich. Und indem ich »Patricia Kaas« wurde, habe ich mich dieser Sicht ausgeliefert. Ich habe ihr beträchtliche Macht zugebilligt.
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Der Titel meiner Tournee, Rendez-vous , hat eine neue, unerwartete Bedeutung bekommen. Ich habe einen Mann kennengelernt, einen Sturmwind. Eine plötzliche, leidenschaftliche Liebe. Weil sie ebenso unausweichlich wie unmöglich ist. Der Mann ist nicht frei und kann es nicht werden. Dennoch kann er sich eine Zukunft ohne mich nicht vorstellen. Ich hingegen
bin frei. Natürlich zwingen mir meine Verpflichtungen, das verrückte Tempo meines Berufs einen etwas seltsamen Alltag auf. Trotzdem kriegen wir es halbwegs hin, uns zu lieben. Wie verrückt zu lieben. Wir treffen uns, wir trennen uns, und unsere Beziehung wird von all dem Hin und Her schlieÃlich doch abgestumpft und verschlissen. Wir bleiben natürlich Freunde. Freunde.
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Rendez-vous endet also in einer recht fröhlichen Tonart. Zudem bereiten mir meine beiden men in black , wie ich Cyril und Richard nenne, am Abend der letzten Vorstellung eine hübsche Ãberraschung. Sie kommen plötzlich als Mädchen verkleidet auf die Bühne, mit blauen und roten Perücken, und fangen einen Striptease an. Wir sind alle wie beschwipst, und das Publikum lacht und macht unsere Verrücktheiten mit. Das Schlussbild dieser Tournee leuchtet immer noch heiter durch meine Erinnerungen.
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Einklang und Missklang
Ich gehe gern ins Studio, wenn meine Stimme trainiert und aufgewärmt von einer Tournee zurückkehrt. Daher warte ich nach Rendez-vous nicht lange ab, sondern mache mich gleich für mein fünftes Album auf die Suche. In Frankreich ist eine neue Generation von Chansonniers herangewachsen. Die vielleicht romantischer sind als diejenigen, die das vergangene Jahrzehnt beschrieben. Sie sind die Kinder einer Epoche, die die traurige Wirklichkeit der Epidemie AIDS ausgleichen muss. Die Restos du CÅur, die nach Coluches ursprünglichen Absichten irgendwann hätten überflüssig werden sollen, haben immer gröÃeren Zulauf, die Zahl der Armen steigt weiter, es ist eine
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