Madonna
Daumennagel schnippte er gegen den Griff seines Dolches. »Dann werde ich wiederkommen und diesem kleinen Kerl hier etwas zu tun geben.«
Entsetzt riss der Junge die Augen auf. »Nein, nein!«, rief er. »Ist alles wahr, was ich Euch erzählt habe!« So ängstlich sah er plötzlich aus, dass Arnulf lachte.
»Glaubst du im Ernst, ich tue einem Spätzchen wie dir was?« Und er strubbelte dem Jungen durch das dünne Haar. Es fühlte sich an, als bestehe es aus lauter toten Fliegenbeinen.
»Bin kein Spätzchen!«, murrte der Junge.
Da nickte Arnulf ihm freundlich zu. »Nein. Natürlich nicht.«
Als er machte, dass er davonkam, hörte er hinter sich Jonas leise lachen.
Wie im Gerberviertel herrschte auch am Spittlertor reges Treiben. Ein Bettler, der sich an den Brunnenrand gelehnt hatte und den Vorbeieilenden flehentlich eine verkrüppelte Hand entgegenstreckte, nickte Arnulf höflich zu. »Gott zum Geleit, Herr Nachtrabe!«
Arnulf erwiderte den Gruß. Der Mann hatte nicht nur eine missgestaltete Hand, sondern ihm fehlte auch eines seiner Augen. Die Höhle, in der es einst gesessen hatte, glänzte dunkelrot und fürchterlich in seinem sonst eher bleichen Gesicht. Ein kleiner Junge stolperte mit mühsamen und eiligen Schritten hinter seinem Vater her. Seine Schuhe waren ihm um mindestens die Hälfte zu groß, jedenfalls sahen sie am unteren Ende seiner spindeldürren Beinchen geradezu lächerlich aus.
Als er an dem Bettler vorbeikam, zuckte er beim Anblick des fehlenden Auges zusammen.
»Buh!«, machte der Bettler und lachte leise glucksend in sich hinein, als der Junge einen kleinen Hopser zur Seite machte. Der Vater hingegen bedachte ihn mit einem finsteren Blick.
»Komm schon!«, herrschte er seinen Sohn an und zerrte ihn kurzerhand weiter.
Das Spittlertor bestand aus zwei gegeneinander versetzten doppelflügligen Holztoren, die beide weit offen standen. Arnulf und Jonas durchquerten erst das eine, dann mussten sie sich nach links wenden. Arnulf wich einem leichten Karren aus, dessen schmale Räder in den tiefen Furchen zwischen den Toren leise knirschten.
Als sie das zweite Tor hinter sich ließen, fiel Arnulfs Blick auf eine Wiese, die von einem langen Weidenzaun in weitem Bogen eingefasst wurde. Der Weg führte an diesem Zaun entlang und gabelte sich dahinter. Linker Hand verschwand er in einem Wäldchen, rechts führte er direkt zu einem der Stadt vorgelagerten Dorf, in dessen Mitte eine winzige, aus dunklem Holz erbaute Kirche stand.
Die Glocke dieser Kirche schien irgendwann Schaden genommen zu haben, denn als Arnulf nur wenig später das Dorf betrat und sie genau in diesem Moment anfing zu läuten, da klang sie misstönend und schrill.
Mehrere Kinder, die allesamt besser genährt aussahen als der zahnlose Junge im Gerberviertel, rannten an Arnulf vorbei. Er pflückte sich eines von ihnen – ein kleines Mädchen mit hübschen blonden Locken – heraus und hielt es fest.
Misstrauisch richtete sich ihr kornblumenblauer Blick auf ihn.
»Ich suche eine Frau namens Lisa, kennst du sie? Sie hat einen Mann, der Vinzent heißt.«
Die Kleine lächelte. »Klar kenne ich die!« Ein wenig besorgt sah sie Rubius an, aber als Jonas ihm befahl, sich niederzulegen, und er, ohne zu zögern, gehorchte, entspannte sie sich.
»Und wo wohnen sie?«, fragte Arnulf.
Die Kleine zappelte, und so ließ er sie wieder los. Mit ausgestrecktem Arm wies sie auf eine kleine Hütte, die am Rande des Dorfes unter einer mächtigen Eiche stand und aussah, als müsse sie sich gegen ihren Stamm lehnen, um nicht umzukippen. Ein ebenfalls recht baufälliger Stall schloss sich an die Hütte an. Dumpfes Muhen drang durch die geschlossene Tür.
Arnulf bedankte sich mit einer galanten Verbeugung bei dem Mädchen. Es kicherte und rannte dann hinter den anderen her. Der Nachtrabe stellte sich vor, wie es ihnen aufgeregt von seiner unheimlichen Begegnung mit dem großen schwarzen Mann erzählen würde.
Mit einem Lächeln auf den Lippen trat er vor die ärmliche Hütte hin.
Als er klopfte, wackelte die Tür in ihren ledernen Angeln so bedenklich, dass er unwillkürlich einen Schritt nach hinten trat, um nicht aus Versehen erschlagen zu werden. Doch die Tür hielt. Einen Moment lang tat sich nichts, dann knirschte in der Hütte irgendein morsches Möbel, ein Stuhl oder vielleicht auch ein Bett.
»Komme!«
Schlurfende Schritte ertönten, dann wurde die Tür geöffnet, und Arnulf schaute in ein verhärmtes Männergesicht, in dem
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