Madonna
sie einer Antwort entheben würde. Sie wollte einfach nicht mehr an Egbert denken – und schon gar nicht an seinen gewaltsamen Tod vor nunmehr fast zwei Jahren.
Ein eisiger Windhauch wehte durch das offene Fenster und ließ die Flamme des Talglichtes flackern.
Katharina schauderte, und der Grund dafür war nicht die Kälte. Um nicht doch noch auf Brunhilds letzte Worte antworten zu müssen, sagte sie: »Ich glaube, ich werde dir noch einmal eine Medizin gegen den Durchfall machen.« Sie erhob sich. Für einen Moment stand sie regungslos da und blickte auf die abgemagerte Frau herab.
Draußen war es stockdunkel, aber jetzt drang der Klang der Nachtglocke herein.
Noch zwei Stunden bis Sonnenaufgang.
Katharina wusste, dass sie nach dem Gespräch mit Brunhild nicht mehr würde schlafen können, und so war die Herstellung der Durchfallmedizin eine willkommene Aufgabe, die sie vom Grübeln abhalten würde. Sie schritt die Treppe nach unten und ging in einen kleinen Raum neben der Küche, der früher als Abstellkammer gedient hatte, den sie jetzt aber etwas großspurig ihre Apotheke nannte. Hier bewahrte sie auf zwei hohen Regalen all jene Heilkräuter und Tinkturen auf, die sich in Dosen oder Schachteln verpacken ließen. Von der Decke hingen große Bündel getrockneter Kräuter.
Zwischen den beiden Regalen, die den fensterlosen Raum flankierten, stand ein hoher Tisch, an dem Katharina ihre Arzneien herstellte. Hier gab es neben mehreren Mörsern unterschiedlicher Größe metallene Löffel und eine kleine Balkenwaage, mit deren Hilfe sich geringe Mengen der verschiedenen Inhaltsstoffe abwiegen ließen. Die dazugehörigen Gewichte befanden sich in einer hölzernen, mit dunklem Samt ausgeschlagenen Schachtel. Zwei flache, fliesenartige Steine mit Vertiefungen in der Mitte, die sich zum Zerreiben von Inhaltsstoffen zu besonders feinen Pulvern eigneten, lagen in der Mitte der Tischplatte. In einemder Regale standen drei Bücher, eines, auf dessen Rücken handschriftlich Opera Omnia. Medicina geschrieben stand: Gesammelte Werke der Medizin. Dann eines von einem arabischen Autor namens Ibn an-Nafis, in dem es angeblich um den menschlichen Blutkreislauf ging. Katharina konnte es nicht lesen, denn es war in arabischer Schrift geschrieben. Die beiden Bücher hatte sie von ihrem verstorbenen Mann geerbt – ebenso wie das Haus und einen ordentlichen Batzen Geld.
Das dritte Buch enthielt medizinische Anweisungen einer heilmächtigen Nonne namens Hildegard. Nach diesem wollte Katharina gerade greifen, als ihr Blick auf die Mappe fiel, die direkt daneben stand. Jäh zog sich ihr Herz schmerzhaft zusammen. Sie zögerte, doch dann gab sie dem Impuls nach, nahm die Mappe hervor und schlug sie auf. Sie enthielt mehrere großformatige Zeichnungen des menschlichen Körpers. Das oberste Blatt zeigte eine menschliche Hand mit weit gespreizten Fingern, die jemand mit wenigen schwarzen Kohlestrichen und roter Kreide skizziert hatte. Schlagartig wanderten ihre Gedanken zurück zu einem Tag vor fast einem Jahr. Damals hatte Richard diese Mappe in Händen gehalten, in seinem Haus in der Tuchgasse kurz bevor er fortgegangen war. Die roten und schwarzen Striche der Zeichnung hatten im Licht einer Kerze geleuchtet.
»Nimmst du sie mit?«, hatte Katharina gefragt. Ihre Stimme klang flach und heiser. Tränen verstopften ihre Kehle.
Er zögerte. Nickte. Dann klappte er die Mappe zu. Rührte sich nicht. »Möchtest du sie behalten?«, fragte er. Er ließ den Kopf hängen, als Katharina flüsterte: »Ich möchte nicht, dass du gehst!«
Von unten her blickte er sie an. Als er sprach, zitterte seine Stimme. »Bitte mich, zu bleiben!«
Sie war nahe dran, es zu tun, doch sie vermochte es nicht. Zu viele Dinge waren geschehen, standen zwischen ihnen. Sie schwieg.
Da hob er den Kopf mit einem Ruck. In seinen Augen stand wieder dieser brennende, leidende Ausdruck, den sie so sehr fürchtete, weil er ihr zeigte, dass Richard ähnliche Dämonen in sich trug wie sie selbst. Ihre Blicke begegneten sich, und Katharina spürte, wie der Boden unter ihren Füßen zu schwanken begann.
Forschend schaute Richard sie an, bereit, all seine Reisepläne über den Haufen zu werfen, wenn sie nur ein einziges Wort aussprach. Alles, was sie tun musste, war, ja zu sagen.
Sie schluckte.
»Du kannst mir nicht verzeihen«, sagte er leise.
Ein Jahr zuvor hatte er im Kampf ihren Ehemann Egbert getötet.
»Du wirst es niemals können.« Er blickte auf die Mappe, dann
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