Madonna
sagen hatte, sie wollte es nicht hören. Sie konnte es einfach nicht. Sie setzte schon an, um sich Hiltrud zu erklären, aber sie kam nicht dazu. Draußen auf dem Flur ertönten Schritte.
So rasch war sie auf den Beinen, dass sie gegen den Tisch stieß. Ihr Becher kippte um, der Inhalt ergoss sich in Hiltruds Richtung. Die entging der heißen Flüssigkeit nur, indem sie selbst aufsprang.
»Tobias!« Katharina war auf dem Flur, bevor der Fluch der älteren Frau verklungen war.
Doch draußen stand nicht Tobias. Draußen stand Donatus. Und bei ihm war Georg Öllinger.
Auf dem Gesicht des Apothekers lag ein Ausdruck, den sie nicht zu deuten wusste. »Darf ich?«, fragte er und wies in die Küche.
»Natürlich.« Sie trat einen Schritt zur Seite und ließ ihn ein.
»Er hat mir angeboten, beim Suchen zu helfen, aber es ist wohl sinnlos«, erklärte Donatus, während er dem Apotheker in die Küche folgte und sich gemeinsam mit ihm an den Tisch setzte.
Öllinger nickte. »Die meisten Leute lassen um diese späte Stunde die Fackeln ausbrennen.«
Katharina nickte. Seit den Ereignissen rund um den Großen Wahnsinn vor mehr als zwei Jahren gab es ein vom Rat erlassenes Gesetz, das die Bürger der Stadt dazu verpflichtete, die Straßen und Gassen wenigstens einigermaßen zu erleuchten. Seit diesem Sommer jedoch mussten die Fackeln nach Mitternacht nicht erneuert werden. Seitdem lag Nürnberg in der zweiten Hälfte der Nacht wieder unter der Glocke aus Finsternis, die der Herr für diese Zeit vorgesehen hatte. In dieser Finsternis würden sie Tobias erst recht nicht finden, wenn sie es schon tagsüber nicht geschafft hatten.
Inzwischen hatte Hiltrud auch den beiden Männern einen Becher hingestellt. »Ich glaube, ich gehe mal besser nach oben«, sagte sie nun, dann blickte sie Katharina an. »Mach dir nicht so viele Sorgen!«
Als sie fort war, sah Katharina Öllinger an. »Es tut mir leid«, murmelte sie.
Er runzelte die Stirn.
»Ihr habt mir Tobias anvertraut, und ich habe nicht sorgsam genug auf ihn achtgegeben«, erklärte sie. »Es ist meine Schuld, dass er weg ist.«
Aus dem Augenwinkel sah sie, dass Donatus einen langen, vielsagenden Blick mit dem Apotheker wechselte, und sie konnte darin lesen, was er bedeuten sollte.
Habe ich es Euch nicht gesagt?
Unsicher, was hier vorging, blickte sie von einem zum anderen. Donatus wich ihr aus. Was hatte er Öllinger über sie erzählt?
Der Apotheker räusperte sich. Dann, mit einer befangenen Geste, nahm er Katharinas Hände und drehte sie so, dass er die Aderlassnarben ansehen konnte. »Donatus hat mir erzählt, dass Ihr an der melancholia leidet«, gestand er.
Katharina schoss einen bösen Blick auf ihren Bader ab, aber der hielt den Kopf noch immer gesenkt.
»Tobias ist nicht Kilian«, sagte er leise. »Er wird wieder auftauchen.«
Zu gerne hätte Katharina ihm geglaubt, aber es fiel ihr schwer. Sie schluckte. »Er hatte Angst, und ich habe ihn damit alleingelassen.«
Öllinger strich über die Narben an ihren Handgelenken. »Ihr habt auch Angst«, sagte er schlicht. »Wenn Ihr Euch dadurch besser fühlt, dann gebt mir die Schuld. Ich habe Euch mit meiner Bitte, ihn bei Euch aufzunehmen, viel zu viel zugemutet.«
»Nein …« Katharina verstummte. Sie wollte sich an das klammern, was er gesagt hatte, aber sie konnte es nicht. Die Tatsache, dass jeder versuchte, ihr ihre Schuldgefühle auszureden, machte diese nicht erträglicher, sondern im Gegenteil nur noch schlimmer. Waren nicht alle anderen Menschen in ihrer Umgebung tugendhafter, als sie es jemals sein konnte? Behutsam, um ihn nicht zu verärgern, entzog sie Öllinger ihre Hände. »Ich danke Euch«, sagte sie leise.
Der Apotheker warf Donatus einen weiteren langen Blick zu. Der Bader schaute missmutig, doch dann nickte er. Er erhob sich und wandte sich zum Gehen. »Ich bin in der Kapelle«, meinte er knapp, bevor er die Tür hinter sich schloss.
Katharina atmete tief durch. Was hatte das nun wieder zu bedeuten?
Einen Moment lang war es sehr still in der Küche. Katharina konnte das Knistern des Herdfeuers hören und das leise Singen des Wassers im Kessel. Ihr Herz schlug heftig, und Übelkeit presste ihr die Kehle zusammen. Sie legte eine Hand auf ihre Schlüsselbeine und stellte die Fingerspitzen so auf, dass ihre Nägel sich in die dünne Haut bohrten.
Öllinger fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Ich …« Er lächelte entschuldigend. »Ich bin nicht besonders gut in dem, was ich vorhabe«,
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