Madonna
Schatten sind undurchdringlich, sage ich nur!« Sie erschauderte übertrieben. Tobias konnte sie jetzt kaum noch verstehen, und er unterdrückte den Impuls, etwas näher zu treten. Neugier war auch eine Sünde, das hatte Dr. Spindler ihm beigebracht.
»Wovon redet Ihr?«, fragte Silberschläger.
»Von diesem Kerl, groß, schwarze Haare, schwarze Kleidung. Eindeutig ein Nachtrabe, da bin ich sicher! Er lungert oft hier herum, beobachtet das Fischerhaus und trollt sich dann wieder. Aber gestern – ich habe es natürlich nur aus Versehen gehört, schließlich belausche ich nicht anderer Leute Gespräche, müsst Ihr wissen …« Sie hielt inne, wartete auf eine Bestätigung.
Silberschläger nickte ungeduldig. »Natürlich nicht. Sprecht weiter!«
»Gestern hat dieser Nachtrabe sich mit der Jacob unterhalten. Eine ganze Weile sogar. Ganz heimlichtuerisch haben die beiden ausgesehen, das kann ich Euch sagen! Und einmal ist ein Name gefallen, ich weiß allerdings nicht mehr genau. Irgendwas mit Rot … Rotschläger oder so.«
»Rotgerber?« Silberschlägers Stimme überschlug sich.
»Könnte sein, ja.«
»Was haben die beiden über Herrn Rotgerber zu reden gehabt?«
Die Frau kehrte die Handflächen nach oben. »Wie gesagt, ich lausche nicht. Aber ich glaube, es ging darum, dass er, Rotgerber, meine ich, das Fischerhaus schließen lassen wollte.«
Silberschläger straffte sich. Kurz schien er nachzudenken, dann glitt ein überaus zufriedenes Lächeln über sein Gesicht. »Ich danke Euch für Eure Aussage«, meinte er. »Wärt Ihr bereit, sie vor dem Stadtrichter zu wiederholen, sollte es zu einer Anklage kommen?«
»Anklage?« Die Frau legte eine Hand an die Lippen, als werde sie sich jäh ihrer Geschwätzigkeit bewusst. »Ich weiß nicht.« Sie trat einen Schritt zur Seite und bekreuzigte sich eilig. »Diese Nachtraben sind doch gefährlich …«
Silberschläger grinste. »Wir werden Euch zu schützen wissen, seid gewiss. Ihr habt mir einen großen Dienst erwiesen, gute Frau. Ich werde dem Stadtrichter also sagen, dass er auf Euch als Zeugin zählen kann.« Er lüpfte seinen Hut und schickte sich an zu gehen.
»Wartet!« Die Frau eilte einige Schritte hinter ihm her. Sie musstedabei an Katharinas Haus vorbei, und ängstlich schielte sie an der Fassade nach oben, um dann die Schatten auf der gegenüberliegenden Seite der Gasse mit den Blicken abzutasten. »Meine Familie – wird sie in Gefahr geraten?«
»Natürlich nicht!« Silberschläger schien es mit einem Mal eilig zu haben. Er ließ die Frau einfach stehen. Gleich darauf war er um die nächste Hausecke verschwunden.
Tobias sah zu, wie die Frau noch einen Augenblick lang grübelnd vor sich hinstarrte. »Huren- und Hexenpack!«, zischte sie in Richtung des Fischerhauses, zog den Kragen ihres Kleides enger um den Hals und lief dann eilig zu ihrer Haustür zurück. Als sie sie hinter sich geschlossen hatte, trat Tobias aus den Schatten in die Mitte der Gasse.
Katharina eine Hexe?
Im Leben würde er das nicht glauben! Katharina war einer der wenigen Menschen, die er jemals kennengelernt hatte, bei denen das, was sie sagte, und das, was ihr Körper ausdrückte, übereinstimmten. Dieser Silberschläger hingegen, er war ein verschlagener, zorniger Mann, die Nachbarin ein klatschsüchtiges Weib.
Tobias wollte eben nach dem Klingelzug greifen, als ihm etwas einfiel. Vielleicht bot sich ihm hier eine Gelegenheit, etwas Gutes zu tun – und damit doch noch die Gnade Gottes zu erlangen. Was, wenn Gott ihn dieses Gespräch absichtlich hatte belauschen lassen? Was, wenn er wollte, dass Tobias diesem Silberschläger folgte und versuchte, herauszufinden, was er vorhatte? Er konnte Katharina dann vor ihm warnen. Ohne zu überlegen, ob es klug war, was er tat, wandte er sich von der verschlossenen Haustür ab und ging Silberschläger nach.
Er folgte ihm quer durch das Viertel in Richtung Spittlertor und wieder hinein in das Gewirr der kleinen Gassen.
Plötzlich fiel ihm etwas auf. Immer, wenn Silberschläger durch den Lichtkreis einer Fackel ging oder durch den Schein, der aus einem Fenster nach draußen fiel, huschte nur wenige Augenblicke später eine dunkle, in einen Mantel mit Kapuze gehüllte Gestalt hinter ihm her. Bei den ersten ein, zwei Malen glaubte Tobias noch an eine Täuschung, doch als die Gestalt auch nach einigen Kurven und Abzweigungen immer noch da war, begriff er, dass er nicht der Einzige war, der Silberschläger folgte.
Ein mulmiges Gefühl
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