Madonna
ergriff ihn. War es richtig, was er hier tat? Er verlangsamte seine Schritte, dachte daran, einfach umzukehren. Doch dann bog er um eine Ecke. Und blieb erschrocken stehen. Die Gestalt war fort! Und mit ihr auch Silberschläger.
Tobias sah sich um. Er befand sich auf einem winzigen Platz, dem Kreuzungspunkt von fünf verschiedenen Gassen, die sternförmig von hier fortführten. Rechts von ihm erhob sich ein mannshoher hölzerner Zaun, hinter dem der riesige Schatten eines Baumes aufragte. Die kahlen Äste von Büschen säumten den Zaun und zeigten an, dass sich dahinter ein Garten befinden musste.
Wo war die Gestalt? Und wo Silberschläger?
Er lauschte aufmerksam. Aus einem der nahe stehenden Häuser drang Gelächter. Ganz leise war das schläfrige Pockern von ein paar Hühnern zu hören, die irgendwo im Finstern vermutlich auf ihren Stangen hockten. Eine Katze kam aus einer der fünf Gassen, überquerte den Platz und verschwand in einer anderen. Ihr Schritt war völlig lautlos – ganz im Gegensatz zu jenem von zwei Betrunkenen, die dem Tier folgten und sich lauthals und vergnügt über die Vorzüge der verschiedenen Kneipen des Viertels unterhielten. Torkelnd kamen die beiden dicht an Tobias vorbei, warfen ihm im Vorübergehen einen Blick zu, achteten jedoch nicht weiter auf ihn. Als ihre Schritte in der Dunkelheit verklungen waren, lauschte Tobias erneut. Sein Herz schlug mit solcher Kraft, dass es schmerzte, und die Angst grub sich jetzt mit kalten Klauen in seinen Magen. Besser, er kehrte um.
Er hatte sich schon umgewandt, als er etwas hörte. Stocksteif blieb er stehen. Hatte da jemand gestöhnt? Er drehte den Kopf ein wenig, und tatsächlich: In dem Garten hinter dem Holzzaun schien jemand zu sein. Die Äste der Büsche bewegten sich jetzt heftig. Rascheln war zu hören, angestrengtes Ächzen. Das Geräusch von Stoff, der zerriss, dann ein gepeinigter Aufschrei. Eine Stimme rief um Hilfe, wurde jedoch mitten im Wort abgeschnitten. Wieder waren Kampflaute zu hören.
Tobias war drauf und dran, wegzulaufen, aber dann fiel ihm ein, warum er überhaupt hier war. Er war jetzt ganz sicher, dass Gott ihn prüfen, dass er noch einmal neu darüber entscheiden wollte, ob er wirklich verdammt war. Wenn er jetzt half … seine Gedanken überschlugen sich … würde er …
Er dachte nicht weiter nach, sondern rannte mit großen Schritten an dem Zaun entlang und suchte nach einem Durchschlupf.
»Lass mich …«, rief eine Stimme. »Nein! Ich …« Dann ertönte ein grausiger, gepeinigter Schrei, bei dem Tobias die Knie weich wurden. Er zögerte, machte noch einen Schritt vorwärts.
Und eine andere, eine kalte Stimme murmelte: »Hinabführen werde ich dich wie ein Lamm zur Schlachtbank.«
Tobias erstarrte. Er kannte diese Stimme! In seinem Leib flammte wieder dieser unbändige Schmerz auf, der ihn an die furchtbare Schuld erinnerte, die er auf sich geladen hatte.
Du hast dich nicht gewehrt!, hörte er Dr. Spindler sagen.
»Hilfe!«, schrie Silberschläger. Zumindest glaubte Tobias, dass es Silberschläger war, denn der Ruf klang erstickt. Ein weiterer schmerzhafter Aufschrei schloss sich an. Etwas Schweres stürzte zu Boden, blieb mit einem dumpfen Aufprall liegen. »Du wirst Katharina Jacob nie wieder anrühren, hörst du?«, sagte die kalte Stimme.
Tobias rannte los. Ein winziges Fachwerkhaus stand an der Ecke des Platzes, und der Zaun grenzte an eine seiner Wände. Tobias umrundete es, tauchte ein in die Gasse daneben und fand hinter dem Haus einen Zugang zu dem Garten. Es war nur eine schmale, sehr finstere Lücke, aber Tobias zögerte nun nicht mehr. Die geballten Fäuste hoch erhoben, stürmte er in die Finsternis. Die Äste der Büsche schlugen ihm ins Gesicht, doch er merkte es kaum.
»Ich helfe Euch!«, rief er noch, bevor er wie angewurzelt stehenblieb.
Er spürte, wie das Blut aus seinem Kopf wich. »Ihr!«, keuchte er. Der Mann, der den Bürgermeister angegriffen hatte, ließ ein Messer fallen. Kurz begegneten sich sein und Tobias’ Blick, und in seinen Augen las Tobias die längst vertraute Warnung.
Schweig still!
Dann wandte der Mann sich um und floh hinein in die Dunkelheit. Tobias stand wie erstarrt. Silberschläger erwachte aus seiner Ohnmacht, griff sich röchelnd an den Hals. Blut schoss zwischen seinen Fingern hervor, und Tobias konnte nicht anders. Er bückte sich.
Und hob das Messer auf. Der Weg, den Gott für ihn vorbestimmt hatte, begann sich vor ihm abzuzeichnen.
Irgendwo hinter ihm
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