Madonna
wollte sie sich nach vorn werfen und der versammelten Menge entgegenschreien, dass hier ein Unschuldiger hingerichtet wurde. Aber dann begegnete ihr Blick dem von Heinrich Kramer. Über die Entfernung von mindestens zwanzig Schritten hinweg versank sie in den hellblauen – eisblauen – Augen des Mannes, und sie sah in ihnen nichts als blanken Hass.
Dieser Inquisitor war eindeutig ihretwegen da!
Entsetzt wich sie einen Schritt zurück, alles in ihr wollte nur noch weglaufen vor diesem Menschen. Doch Kramer schien ihr Vorhaben zu spüren. Ganz sacht, sodass es niemand außer ihr, Richard und Arnulf mitbekam, schüttelte er den Kopf.
Katharina begriff.
Du entkommst mir nicht!, bedeutete das.
Neben ihr stieß Richard ein gequältes Stöhnen aus. Auf dem Richtplatz beendete der Priester sein Gebet. Mit dem Daumennagel zeichnete er ein Kreuz auf Tobias’ Stirn, dann trat er zurück. Der Henker umfasste sein Schwert fester und trat an Tobias’ Seite.
»Heilige Mutter Gottes, steh ihm bei!«, murmelte jemand in der Menge.
Katharinas Blick eilte zwischen Kramer und der hoch aufragenden schwarzen Gestalt des Henkers hin und her. Es war, als seien plötzlich alle Gespenster ihrer Vergangenheit wieder auferstanden.
Der Henker hob sein Schwert in die Höhe.
Richard spürte, wie eine tiefsitzende Wut über die ausweglose Lage seine Eingeweide zusammenquetschte. Er wollte Katharina packen und mit ihr laufen, so schnell er konnte. Doch er wusste, dass sie nicht entkommen konnten. Kramer hatte zwanzig Büttel, die auf seinen Befehl hin hinter ihnen her sein würden. Seine Hand packte den Schwertgriff, und er sah, dass Arnulf es ihm gleichtat.
»Hast du eine Idee?«, fragte er leise.
Arnulf schüttelte den Kopf. Trotzdem zog er mit einer behutsamen Geste das Schwert halb aus der Scheide.
Langsam hob Katharina beide Hände an das Gesicht, legte sie erst auf die Wangen, was sie unendlich entsetzt aussehen ließ, dann verschloss sie damit ihren Mund. Es wirkte, als wolle sie sich einen verzweifelten Schrei zurück in die Kehle stopfen.
Aus dem Augenwinkel sah Richard den Henker das Schwert heben. Er hörte das feine Sirren, mit dem die Klinge die Luft durchschnitt. Blitzartig griff er zu. Er packte Katharinas Schultern und riss sie zu sich herum, sodass sie ihr Gesicht genau in dem Augenblick an seiner Brust barg, als das Schwert auf Sehnen und Knochen traf und sie mit einem grausigen Geräusch durchtrennte.
Die Menge stöhnte auf. Einen kurzen, schrecklichen Moment lang dachte Richard, der Henker habe versagt – müsse den Hieb wiederholen, weil es ihm nicht gelungen war, Tobias’ Kopf säuberlich vom Rumpf zu trennen. Doch dann erklangen einzelne Jubelrufe. Richard gestattete sich einen Blick, einen Herzschlag lang nur, doch er reichte aus, um den kahlen Kopf zu sehen, der auf dem Boden des Rabensteins zum Liegen kam. Die Augen unter den buschigen schwarzen Brauen waren weit aufgerissen, der Mund klaffte offen.
Richard musste schwer schlucken.
In seinen Armen hatte Katharina angefangen zu zittern. Sie flüsterte etwas, wieder und wieder, doch er konnte nicht verstehen, was es war. Erst, als er sie ein Stück von sich fortschob, als sie ihm das tränenüberströmte Gesicht zuwandte und er ihre bebenden Lippen betrachten konnte, verstand er sie.
»Er war unschuldig«, wisperte sie. »Unschuldig. Unschuldig.«
Dann legte sie die Stirn wieder gegen seine Brust.
Auf seinem Platz in der Menge gab Kramer irgendjemandem einen knappen Wink.
Und im nächsten Moment überschlugen sich die Ereignisse.
»Seht ihr das denn nicht?«, erhob sich eine entsetzte Stimme schrill über die Menschenmenge. Unruhe entstand, lief wie eine Welle von Mensch zu Mensch.
Ein feines Sirren neben ihm zeigte Richard, dass Arnulf sein Schwert gezogen hatte.
»Oh Gott!«, schrie die Stimme. Sie gehörte dem Bußprediger mit dem schwarzen Samthut, dem er schon begegnet war, als er mit Jonas auf dem Weg zum Lochgefängnis gewesen war. Der Mann hatte beide Hände in die Höhe gerissen, als wolle er die Menge segnen oder sie verfluchen, und nun sprang er mit einem Satz auf eine der Ecken des Rabensteins. »Seht ihr nicht?«, kreischte er.
»Scheiße!«, hörte Richard Arnulf dicht an seinem Ohr murmeln. »Wusste ich es doch!«
Er sah den Nachtraben an, und Arnulf sagte: »Das ist der Kerl, mit dem der Mönch gerade geredet hat.«
Richard hatte keine Zeit, über die Schlüsse nachzudenken, die sich aus dieser Aussage ziehen ließen. Der
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