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Madonna

Madonna

Titel: Madonna Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Lange
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eisige Hand fasste nach Donatus’ Herz. »Was …?« Er wirbelte herum, starrte Tobias an.
    Der Junge hatte sich mit dem Rücken gegen die Wand gepresst, und obwohl er die Hände hinter sich verbarg, glaubte Donatus zu sehen, wie sie zitterten. Tobias öffnete die Lippen ein wenig, presste sie aufeinander. Mit der Zungenspitze befeuchtete er seine Mundwinkel, und dann pfiff er eine kurze Melodie.
    Eine Melodie, die Donatus ein entsetztes Keuchen entlockte. Nein!, dachte er erschrocken. Bitte nicht! Er wich zurück, der Boden unter seinen Füßen fühlte sich plötzlich an, als sei er zu Treibsand geworden.
    Mitten im Ton brach Tobias ab. Seine Wimpern waren nass.
    »Geh in dein Zimmer!«, krächzte Donatus.
    Der Junge gehorchte. Leise drückte er die Tür ins Schloss, dann scharrte erneut der Stuhl über die Fußbodendielen.
    Mit jagendem Herzen stand Donatus da und starrte gegen das dunkle Holz des Türblatts. Warum? Sein Verstand stellte diese Frage voller Ängstlichkeit. Warum, Gott, lässt du das erneut zu?
    »Donatus?« Katharinas Stimme erklang, ihr verwundertes Gesicht erschien in der Tür zu Brunhilds Kammer. »Ist etwas?«
    Er musste sich zusammenreißen. Rasch räusperte er sich. »Nein.«
    Sie musterte ihn einen Moment, dann blickte sie zu Tobias’ Tür. Halb erwartete er, sie würde ihn zurechtweisen, weil er sich nicht beeilte, Dr. Spindler zu holen. Doch in ihren rauchgrauen Augen war kein Ärger zu sehen.
    Mit dem Kopf deutete sie in Richtung Haustür. »Du solltest dich beeilen«, sagte sie nur.
    Und sie kehrte an Brunhilds Bett zurück.
    Donatus lief, so schnell er konnte. Vorbei an St. Lorenz und am Katharinenkloster, von dort aus über die Heubrücke auf die Insel Schüdt. Auf der Brücke nahe Heilig-Geist konnte er jedoch nicht mehr weiter.
    Mitten auf dem breiten hölzernen Steg blieb er stehen. Unter ihm gurgelte das Wasser um die Pfeiler, wirbelte in kleinen Strudeln umeinander und brach sich schäumend an ein paar Steinen, die in seinem Weg lagen.
    Donatus klammerte die Hände um das Brückengeländer.
    Er bekam kaum noch Luft. Keuchend atmete er ein, dann aus, und mit jedem Atemzug wurde sein Brustkorb enger und enger. Tobias’Melodie hallte in seinem Kopf wider, diese kurze Folge an- und abschwellender Töne, die er hinter sich gelassen zu haben geglaubt hatte.
    Ein Schluchzer drängte sich in seiner Kehle nach oben. Seine Knie zitterten, und nur mit Mühe konnte er sich aufrecht halten.
    Diese Melodie! Wie lange war es her, dass er sie zum letzten Mal gehört hatte? Er vermochte es nicht in Tagen und Wochen zu sagen, aber trotzdem kannte er die Antwort genau. An jenem Tag war es gewesen, als Kilian gestorben war …
    »Kilian, um Himmels willen! Was ist denn passiert?« Donatus schaute von dem Haufen Gänsefedern auf, die er gerade mit seinem Messer schärfte. Kilian war in die Stube gestolpert gekommen, blass im Gesicht und mit blauschwarzen Schatten unter den Augen. Er war einer der Armen Scholaren, ein hübscher Junge von vierzehn Jahren, dessen Züge noch kindlich weich waren, obwohl bereits ein erster Bartschatten seine Oberlippe zierte. Bei seinem Anblick ließ Donatus die Feder sinken.
    »Ich …« Kilian durchquerte den gesamten Raum, trat ans Fenster und starrte hinaus, ohne sich zu erklären.
    Donatus legte die Feder fort, an der er gerade gearbeitet hatte, blieb jedoch sitzen. Ein Kribbeln erfasste sein Genick. »Was ist passiert, Kilian?« Er bemühte sich, sehr sanft zu sprechen.
    Doch er erhielt keine Antwort. Stattdessen begann Kilian zu pfeifen. Es war eine kurze Melodie nur, wenige Töne, die mehr wie das Zwitschern eines Vogels klangen denn wie ein Lied, das von einem Menschen ersonnen worden war. Donatus schloss die Augen.
    Bitte nicht!
    Kilian brach ab. Schwer lastete die Stille auf ihnen.
    »Was ist mit dieser Melodie?«, flüsterte Donatus, obwohl er die Antwort kannte.
    Da endlich drehte sich Kilian zu ihm um. Wild war sein Blick, fast ein wenig irre und zutiefst verletzt. »Das ist sein Zeichen«, flüsterte er.
    Das Kribbeln in Donatus’ Genick verstärkte sich. Langsam nickte er. Er wusste, was jetzt kommen würde. Dennoch fragte er: »Was für ein Zeichen?« Seine Stimme klang heiser.
    Da ließ Kilian den Kopf hängen. »Das Zeichen, dass man kommen muss. Zu ihm. Aus dem Schlafsaal hinaus und zu ihm.« Er zog dieNase hoch, und in diesem Moment wirkte er sehr jung und sehr verletzlich.
    Donatus erhob sich, blieb jedoch hinter seinem Pult stehen.
    Gepeinigt

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